Das Erbe des Greifen
sich zusammen. Er hatte seinen Vater seit langen Jahren nicht mehr gesehen, und doch war er überrascht, wie sehr die Nachricht ihn berührte.
»Danke«, sagte er mit einer leichten Verbeugung. »Ich wünschte, ich hätte die Möglichkeit, ihm die letzte Ehre zu erweisen.«
»Deshalb ist Sina hier«, teilte ihm der hagere Mann mit, der auf dem Brunnenrand saß. »Sie wird Euch rechtzeitig nach Thyrmantor bringen. Vorausgesetzt, Ihr habt keine Höhenangst.«
Lamar blinzelte überrascht.
»Er meint Nestrok, Ser Lamar«, erklärte die Sera Sineale mit einem Lächeln. Wie hatte der hagere Mann sie genannt? Sina? War sie wirklich die Tochter der Priesterin Leonora und des Arteficiers Knorre?
Er musterte die Gesichter, die ihm plötzlich auf seltsame Weise vertraut vorkamen, und schluckte »Diese Geschichte … Eure Geschichte … sie ist durch und durch wahr?«
»Warum sollte ich Euch etwas erzählen, das nicht stimmt?«, fragte der alte Mann, von dem Lamar mittlerweile annahm, es müsse Garret sein. »Dafür ist es zu wichtig«, brummte er und zog eine Augenbraue hoch, als sich der Gesandte vor ihm verbeugte und sich anschickte, zu gehen. »Wohin wollt Ihr?«
»Ich muss dem Prinzen das Quartier bereiten«, antwortete Lamar zerknirscht. »Ihr habt den Herold ja gehört.«
»Da werdet Ihr kaum Glück haben«, meinte der alte Mann schmunzelnd. »Jedes Bett im Dorf ist belegt. Aber vielleicht findet sich noch ein warmes Plätzchen im Stall.«
»Ich hoffe, Ihr irrt Euch«, sagte Lamar betrübt. »Sonst muss ich mein eigenes Zimmer abgeben.«
»Das würde ich nicht tun«, erwiderte die Sera Sineale lächelnd. »Der Wirt versprach es bereits jemand anderem für den Fall, dass Ihr auszieht. Er wird es Eurem Prinzen nicht geben können.«
»Aber er ist der Prinz!«, protestierte der Gesandte.
»Nicht der unsere.« Der Geschichtenerzähler lachte.
»Dennoch muss ich es versuchen«, erwiderte Lamar und verbeugte sich erneut, doch dann fiel ihm noch etwas ein.
»Sagt, Ihr habt erwähnt, dass der Kanzler einen Plan verfolgte, den er zusammen mit dem Kriegsmeister geschmiedet hat.«
»Ganz recht«, antwortete der alte Mann. »Was wollt Ihr wissen?«
»Wie hat der Kanzler reagiert, als er merkte, dass sein Plan fehlgeschlagen war?«
»Wie kommt Ihr darauf, dass der Plan fehlschlug?«, fragte der alte Mann überrascht.
»Tat er das nicht? Die Stadt fiel doch an den Greifen!«
»Es ging ihm ja nicht um die Stadt«, erklärte der alte Mann. »Sie war ihm überhaupt nicht wichtig. Hätte Lord Daren sie eingenommen, dann wäre es nicht mehr als ein Zubrot gewesen. Nein. Ihm ging es um etwas anderes. Um Alt Lytar.«
»Aber … gab es denn noch eine Schlacht am Pass?«
»Das nicht gerade«, sagte der alte Mann und zündete sich seine Pfeife an. »Der Pass war eine der wenigen Schwachstellen in Meister Pulvers Plan. Aber vielleicht auch nicht.« Der alte Mann zuckte die Schulter. »Wer kann das schon sagen. Es war jedenfalls besser, den Pass zu sichern, als ihn offen zu lassen. Nur hatten wir eines vergessen: Der Pass ist der einzige Weg ins Tal, der Menschen offen stand.«
»Ich verstehe nicht«, sagte Lamar.
»Nun, fast im selben Moment, als in Berendall das Banner des Greifen gehisst wurde, entdeckte Marten das Lager der Kronoks. Gut fünfzig von ihnen hatten unbemerkt das Gebirge überquert. Sie brauchten keinen Pass, denn ihre Reittiere können, anders als Pferde, klettern. Das Erschreckende daran war, dass sich dieses Lager kaum mehr als einen halben Tagesritt von Alt Lytar entfernt befand. Und dies war Beliors Plan: Während wir unsere spärlichen Kräfte auf den Pass und auf Berendall konzentrierten, war es ihm gelungen, seine Streitmacht von Kronoks direkt vor unserer Haustür zu platzieren, ohne dass wir davon wussten!«
»Götter!«, rief Lamar erschrocken. »Fünfzig von ihnen! Wie sollte man die denn mit den verbleibenden Kräften besiegen können?«
»Das hat sich Meister Pulver auch gefragt«, sagte der alte Mann und lachte.
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