Das Erbe des Greifen
antwortete Tarlon. »Zum einen bist du, wie alle aus Lytara, sehr leise, ich müsste also genau hinhören. Zum anderen …« Er klopfte Garret leicht auf die Schulter. »Lass uns zum Gasthof hinübergehen. Und sollte Vanessa auf die Idee kommen, ein Zimmer für euch beide zu nehmen, rede ihr das aus.«
»Wieso sollte Vanessa auf die Idee kommen?«, fragte Garret, der bemerkte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte.
»Weil du nicht auf solche Ideen kommst, nicht wahr, mein Freund?«, lächelte Tarlon und verstärkte den Druck auf Garrets Schulter ein wenig.
»Ich?« Garret versuchte möglichst unschuldig dreinzuschauen. »Wie das? Ich kann warten.«
»Dann ist es ja gut«, nickte Tarlon. »Denn das bedeutet, dass sich die Bardin ein Zimmer mit Vanessa teilen kann und nicht alleine schlafen wird.«
»Vielleicht sollten wir alle zusammen …«
»Nein«, entgegnete Tarlon und lachte leise. »Seitdem sie fünf ist, behauptet Vanessa, dass ich entsetzlich laut schnarche, und hat deshalb geschworen, nie wieder ein Zimmer mit mir zu teilen.«
»Ich habe dich noch nie schnarchen hören.«
»Das ist nicht weiter verwunderlich, denn dazu müsste ich ja noch lauter schnarchen als du«, lachte Tarlon.
»Gedanken lesen zu können muss sehr nützlich sein«, meinte Lamar nachdenklich.
»Oder auch nicht«, entgegnete der alte Mann und trank schnell einen Schluck Wein. »Manchmal will ich gar nicht so genau wissen, was andere von mir denken.«
»Der Punkt geht an Euch«, lachte der Gesandte. »In diesem Fall bliebe von der Höflichkeit unter den Menschen auch nicht mehr viel übrig. Zudem, wenn ich will, dass der andere weiß, was ich von ihm denke, kann ich es ihm ja auch sagen!«
»Das ist die richtige Einstellung«, antwortete der alte Mann. »Andrerseits, hätten die beiden Soldaten damals Gedanken lesen können, wären sie vielleicht nicht gar so unbekümmert gewesen …«
Einer der Soldaten sah den zwei jungen Männern hinterdrein, die mit den beiden Frauen gekommen waren. Den Schlaksigen ignorierte er, doch der andere war groß und breit genug für zwei.
»Mach dir keine Gedanken«, flüsterte sein Kumpan. »Meistens sind diese Kerle entweder schlau oder stark. Schau dir seinen Gesichtsausdruck an. Der mag vielleicht so stark sein wie ein Ochse, dafür ist er aber mit Sicherheit auch genauso blöde!«
In diesem Moment lachte der große junge Mann laut auf und sagte etwas zu dem anderen, das diesen ebenfalls zum Lachen brachte.
»Siehst du«, meinte der Soldat. »Dummheit geht oft mit einem fröhlichen, einfachen Gemüt einher. Er versteht einfach nicht, dass das Leben eine Qual ist.«
»Du meinst, wir tun ihm also einen Gefallen, wenn …«, erwiderte der eine Soldat und fuhr sich dabei mit dem Finger über die Kehle.
»Genau«, grinste sein Freund. »Aber nicht jetzt. Der Zeugmeister schaut gerade zu uns herüber, und ich will keinen Ärger.«
»Das war nicht nur unbekümmert, sondern ausgesprochen dumm«, stellte Lamar fest. »Es ist immer ein Fehler, andere zu unterschätzen.«
»Ja, nichts bringt einen schneller ins Grab als Annahmen und Vorurteile«, bestätigte der Geschichtenerzähler. »Auf der anderen Seite … wer von uns ist schon frei von ihnen?«
»Nun, vielleicht dieser Tarlon«, meinte Lamar. »Erscheint mir ein Mensch zu sein, der immer alles von allen Seiten her betrachtet.«
»Die Frage ist nur, ob es ihm auch immer gelang.«
»Jedenfalls dürfte es ihm öfter gelungen sein ab diesem Garret.«
»Meint Ihr?«, lachte der Geschichtenerzähler und streckte sich ein wenig. »Vielleicht Solisten wir eine kleine Pause machen?«, schlug er vor.
»Nein, noch nicht«, rief Saana, und auch ein paar der anderen Zuhörer im Gastraum protestierten. »Doch nicht mitten in der Geschichte!«, rief einer.
»Nun, was meint Ihr, Ser?«, überließ der alte Mann dem Gesandten die Entscheidung.
»Eine kleine Pause wäre nicht unwillkommen. Aber nicht jetzt. Jedenfalls nicht, bevor ich nicht weiß, wie es mit den beiden Soldaten ausging«, sagte Lamar und zwinkerte Saana zu.
»Anders als erwartet«, grinste der alte Mann. »Anders als erwartet …«
»Warum schüttelst du den Kopf?«, fragte Vanessa ihren Bruder, als er zusammen mit Garret die Gaststube betrat. Groß und mit einer niedrigen Decke, die von schwarzen, schweren Eichenbalken gestützt wurde, war der Raum von Gästen überfüllt, es stank nach Leder, Schweiß und anderen undefinierbaren Gerüchen. Die Theke, zu der sich die
Weitere Kostenlose Bücher