Das Erbe des Greifen
auch, wenn einfach nur ein Brunnen versiegt, denken die Leute immer gleich, es sei die Strafe der Göttin. Reiner Aberglaube, wenn ihr mich fragt. Dennoch wünscht sich jeder Einzelne in den Vorlanden, dass der Greif wiederkehrt, denn dies wäre das Zeichen dafür, dass die Göttin uns verziehen hat.«
»Das hat sie bereits«, teilte Tarlon dem Mann lächelnd mit. »Es gibt wieder eine Dienerin Mistrals in Lytar, und die Verderbnis der alten Stadt wurde gebannt. Wenn damals also auch eine Strafe über die Vorlande verhängt wurde, seid beruhigt, Wirt, es ist ausgestanden. Die Göttin hat uns vergeben.«
Der Wirt sah ihn an und zuckte mit den Schultern.
»Ich halte mich nicht für einen besonders abergläubischen Mann, mir braucht Ihr das nicht zu sagen. Ich weiß sehr wohl, dass manche Ernten auch trotz der Gunst der Göttin schlecht ausfallen werden. Aber die Leute hier werden es gerne hören. Glauben werden sie es jedoch erst, wenn der Greif die Schlange zu Boden geworfen hat, ganz so, wie es das alte Wappen Lytars zeigt.«
»Die Schlange?«, entfuhr es Vanessa neugierig.
»Sie setzen die Schlange mit dem Drachen gleich, dem Wappentier des Könighauses von Thyrmantor. Der Drache ist ein altes Symbol, das für das Königreich steht«, erklärte Hiram. »Was wohl damit zu tun hat, dass der Paladin des Königs seit jeher auf einem Drachen reitet, der das Königreich schützen soll.«
»Ich dachte, Lindor reitet einen Drachen?«, fragte Garret überrascht.
»Richtig«, nickte der Wirt. »Graf Lindor ist der Paladin des Prinzen. Er ist der Einzige von dem ganzen Pack, der noch so etwas wie Ehre in sich trägt.«
Garrets Gesicht verdüsterte sich schlagartig.
»Glaubt mir«, entgegnete er kühl. »Viel Ehre hat dieser Paladin gewiss nicht in sich!«
»Verwechselt Ihr hier vielleicht nicht den Mann, Ser Garret?«, fragte Hiram höflich.
»Ich glaube nicht«, konterte Garret. »Ich konnte mich selbst davon überzeugen, wie wenig Ehre er besitzt. Er erschlug eine wehrlose Frau vor meinen Augen.«
»Nun, wenn Ihr es sagt«, lenkte der Wirt ein, klang aber nicht überzeugt. »Zumindest kann ich euch berichten, dass Graf Lindor bereits in Berendall eingetroffen ist. Die Gerüchte besagen zudem, dass er den alten Grafen dazu bewegen soll, dem Reich beizutreten. Wenn es ihm gelingt, würde er dem hiesigen Baron damit auf jeden Fall einen großen Gefallen erweisen. Denn der ist, wie ich weiß, mehr als begierig darauf, an Thyrmantors Seite zu treten.« Er lachte kurz und bitter. »Es heißt, er habe sich umgehend zum Regimentslager begeben, um eine Audienz beim Grafen Lindor zu ersuchen.«
Garret, Vanessa und Tarlon warfen sich einen Blick zu.
»Graf Lindor ist in Berendall?«, fragte Garret ungläubig.
»Ja«, beschied ihm der Wirt schlicht. »Er ist heute Morgen angekommen und hat das Kommando über das Regiment übernommen, das vor Berendalls Toren lagert.«
»Ein Regiment von Beliors Soldaten? Tausend Mann also?«, hakte Tarlon nach.
»Genau. Sie lagern dort bereits seit einiger Zeit. Angeblich in friedlicher Absicht. Was daran allerdings friedlich sein soll, wenn ein Regiment ungefragt vor den Mauern einer Stadt kampiert, frage ich mich schon. Seit fast zwei Jahren’ stehen die Soldaten nun vor unseren Toren, und noch immer ist nichts geschehen. Außer, dass man den Soldaten überall begegnet … auf Freigang, wie es heißt. Sie sind in der Stadt nicht einmal unwillkommen, denn offensichtlich beziehen sie einen sehr guten Sold, den sie nur allzu gerne bereit sind, wieder auszugeben. Nur in den letzten zwei Tagen scheint etwas im Gang zu sein.«
»Erzählt mehr«, forderte die Bardin ihn auf. »Was genau tut sich?«
Hiram kratzte sich am Kopf. »So genau weiß das niemand. Zum einen wurden alle Soldaten ins Lager zurückberufen. Zum anderen sind kleine Gruppen von ihnen unterwegs, die jemanden suchen. Oftmals in Begleitung von einem der dunklen Priester Darkoths. Angeblich wurde einer der Letzteren erschlagen, und jetzt sinnen sie auf Rache. Sie scheren sich wenig um die Stadtgesetze, gehen, wohin es ihnen gefällt, durchsuchen Häuser und verhören sogar Leute, die sie nur auf der Straße antreffen. Einmal muss es sogar zu einem Handgemenge zwischen den Stadtwachen und den Soldaten des Grafen Lindor gekommen sein.«
»Dem Grafen von Berendall wird dies wohl kaum gefallen«, vermutete Garret, und der Wirt nickte.
»Das ist wahr, doch was soll er tun? In Berendall gibt es vielleicht an die zweihundert
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