Das Erbe des Greifen
Moment sein, an dem ich etwas sehen werde, was ich nicht werde sehen können, wenn Ihr mir jetzt mein Augenlicht zurückgebt. Ich kann nicht sagen, was es ist, ich weiß nur eines: An diesem Tag wird sich das, was an uns verdorben wurde, für Lytar zum Segen verwandeln.« Ihre Schultern zuckten, als ob sie ohne Tränen weinen würde. »Dies ist unsere Erlösung, denn nun ist gewiss, dass unser Leiden einen Sinn hat, dass es notwendig ist!«
Atemlos ließ sie den Kopf sinken.
»Ihr könnt die Strafe von uns nehmen, wenn der dunkle Prinz besiegt ist, und vorher vielleicht unser Leid lindern, aber bis zu diesem Tag werden wir die dunklen Gaben der Göttin noch brauchen.«
»Wer …«, begann Astrak mit belegter Stimme und räusperte sich. »Wer ist wir, Sera?«, fragte er dann leise.
»Wir, die Verdorbenen«, antwortete sie mit gesenktem Haupt. »Verdreht, entstellt, gestraft und verflucht, sind wir die Bewahrer der Stadt. Dies ist unsere Heimat …«
»Wie viele seid ihr?«, hakte Elyra nach, als sie hoffen konnte, dass ihre Stimme ihr wieder gehorchte.
»Viele … Wir sind viele, Priesterin der Mistral. Es gibt mehr als zweihundert von uns, und wir stehen bereit, der Göttin und Euch zu dienen.«
»Göttin«, entfuhr es Astrak. »So viele? Und ihr lebt hier in der Stadt?«
»Ja. Es gibt durchaus noch Orte, die einigermaßen sicher sind.«
»Aber hier zu leben muss grausam sein!«, rief Astrak entsetzt aus.
»Wenn man nichts anderes kennt, ist auch das Ungewöhnlichste für einen gewöhnlich.« Lenise zuckte die Achseln. »Es ist, wie es ist. Es war der Wille der Göttin, Ihre Strafe für uns. Und wir haben sie in Demut getragen.« Ihr Gesicht verzog sich schmerzlich. »Jedenfalls diejenigen, die wir nicht an die Stadt, die Wildnis … oder an die Verderbnis verloren. Aber wir beteten dafür, dass dieser Moment kommen würde, der Moment, an dem offenbar wird, dass die Göttin uns verziehen hat und die Verderbnis von uns nimmt!«
»Lenise«, sagte Elyra leise, »sagt, warum nennt Ihr Belior einen Prinzen? Er ist der Kanzler von Thyrmantor, ich wüsste nicht, dass er von Adel wäre.«
»Weil er der Prinz ist!«, antwortete Lenise, die von Elyras Frage sichtbar überrascht war. »Es war seine Gier, sein Morden, seine Tat, die Lytar damals ins Verderben stürzte. Er war derjenige, der dem verbannten Gott die Tür in diese Welt öffnete.«
»Belior? Belior ist der letzte Prinz von Lytar?«, fragte Elyra ungläubig. »Aber das kann nicht sein! Wie ist es möglich, dass er noch lebt?«
Lenise erhob sich und ordnete ihre Kleider, dann stieg sie die Treppe empor und legte sanft eine Hand auf das schwere Tempeltor.
»Wenn Ihr den Tempel Eurer Göttin betretet, Priesterin der Mistral, werdet Ihr dort die Antwort auf Eure Fragen finden.«
»Und, verhielt es sich so?«, erkundigte sich Lamar. »Schon«, nickte der alte Mann. »Nur warfen die Antworten noch mehr Fragen auf. Seht Ihr, wir hatten unsere Überlieferungen, und glaubten daher zu wissen, was damals geschehen war und warum uns die Göttin so übel gestraft hatte. Doch wussten wir bis dahin eben nicht alles.« Der alte Mann seufzte und massierte sich die Schläfen.
»Das mit Belior …«, meinte Lamar. »In Eurer Erzählung sagte Lenise, dass er derjenige gewesen wäre, der damals die Strafe der Göttin über Lytar gebracht hatte. Und dass er derselbe wäre, der nun wieder nach der Krone greifen würde? Das ist nur schwer zu glauben!«
»Es sind schon seltsamere Dinge geschehen, Freund Lamar«, widersprach der alte Mann und schüttelte den Kopf. »Aber ja, es schien uns zunehmend so, als würden uns die Sünden unserer Ahnen einholen. Noch hatte sich uns nicht alles offenbart, außerdem wussten wir zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht, was für ein böses Spiel der Kanzler mit uns trieb, der sich wie kein anderer auf Täuschung und Hinterlist verstand. Vielleicht hatten wir ihn unterschätzt, doch das wissen allein die Götter. Wir taten damals einfach, was uns richtig erschien. Dazu gehörte auch, Belior den Zugang zu unserem Tal zu verwehren und den Pass zu sichern. Das war die Aufgabe von Meister Ralik. Die Hüterin Meliande und Hauptmann Hendriks sollten währenddessen die Söldner in den Vorlanden für uns gewinnen. Das war zumindest der Plan … Und aus diesem Grund war Meister Ralik auch am frühen Morgen desselben Tages zusammen mit dem Hauptmann, der Hüterin und einigen anderen aufgebrochen …«
»Wollt Ihr nicht zuerst erzählen, was sich
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