Das Erbe des Greifen
weiterhin im Tempel zutrug?«, wandte Lamar ein. »Das würde mich im Moment am meisten interessieren.«
»Seht«, erklärte der alte Mann mit einem Lächeln. » Viele Ereignisse fanden damals zur gleichen Zeit an verschiedenen Orten statt, und eins fügte sich zum anderen …«
»Also gut, aber ich nehme an, wir erfahren noch, was sich im Tempel abspielte?«
»Deshalb seid Ihr ja hier«, beruhigte ihn der Erzähler. »Aber zuerst begleiten wir jetzt einmal Meister Ralik, die Hüterin und unseren wackeren Hauptmann Hendriks ein Stück des Weges …«
Der Greifenpass
Der kleine Trupp aus Lytar brauchte fast den ganzen Tag, um den Pass zu Pferd zu erreichen, und Ralik war froh, als er endlich die alte Passfeste vor sich liegen sah. Obwohl er reiten konnte, hasste er es, auf einem Pferd zu sitzen. Daran änderte auch der Sattel nichts, den Hernul extra für ihn gefertigt hatte. Zudem hatten sie mit dem Wetter nur wenig Glück gehabt. Auf dem gesamten Weg hierher hatte sie ein ständiger Nieselregen bis auf die Knochen durchnässt, und am Pass selbst war es klamm und eisig.
Ralik lenkte sein Pferd in die Nähe eines großen Steinbrockens und glitt erleichtert aus dem Sattel. Auf dem Stein blieb er eine Weile stehen, froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Er drückte die Fäuste in seinen Rücken und streckte sich, während eine der jungen Frauen aus Lytara Raliks Pferd am Zügel nahm und wegführte.
Es waren knapp hundert Leute, die die alte Passfeste sichern sollten, ein gutes Drittel rekrutierte sich dabei aus den Reihen der Söldner, der Rest bestand aus meist unverheirateten jungen Männern und gut einem Dutzend lediger junger Frauen aus dem Dorf.
Neben ihm unterdrückte Hauptmann Hendriks, der Anführer der Söldner, ein Stöhnen, als ihm der Heiler Helge und seine Tochter Rabea vom Pferd halfen.
Ralik hielt im Allgemeinen nicht viel von Söldnern, aber zumindest Hendriks schien ihm ein ehrlicher, aufrechter Mann zu sein. Obwohl noch lange nicht vollständig genesen, hatte er doch die Strapazen der Reise auf sich genommen, um seiner Aufgabe nachkommen zu können. Gut getan hatte ihm der Ritt jedoch nicht, denn er wirkte bleich und erschöpft, wie er sich nun schwer auf seine Krücke stützte und langsam in der Gegend umsah.
Anders Meliande, die ehemalige Hüterin des Depots. Ihr schienen die Strapazen des Ritts nichts ausgemacht zu haben. Sie wirkte wie immer frisch und munter und hatte für jeden ein freundliches Lächeln parat, auch wenn sich ihr jetzt beim Anblick der Passfeste ein Schatten übers Gesicht legte.
»So viel Zeit«, flüsterte sie. »Ich erinnere mich noch an die Zeit, in der dort oben noch das Banner des Greifen wehte … und etwas unterhalb standen Häuser, fast schon ein kleines Dorf.« Ihr Blick glitt über die Bruchsteine, die aus der Wallanlage und den Häuserruinen herausgebrochen waren. »So viel Zerstörung zu sehen, wo einst Leben war, tut weh.«
»Wartet ab, Sera«, erwiderte Ralik. »Wir werden die Feste schneller wieder aufbauen, als ihr es für möglich haltet.«
»Das wird aber ein ganzes Stück Arbeit werden«, stellte Hendriks fest. Er rieb sich die Hände, es war empfindlich kalt hier oben. »Wenigstens scheinen die Mauern des Turms noch stabil zu sein. Was den Wall angeht, bin ich mir dagegen nicht so sicher.«
»Wir haben einen Vorteil«, meinte Ralik und kletterte von seinem Stein herab. »Der Gegner wird wohl kaum Katapulte mit sich führen. Wenn wir den Wall also reparieren, wird er für die Truppen Beliors auf jeden Fall ein starkes Hindernis darstellen.«
»Lasst uns den alten Gasthof suchen, den es hier oben geben soll«, schlug Hauptmann Hendriks vor. Er stützte sich schwer auf die Schulter seiner Tochter. »Ich könnte eine kleine Pause gut vertragen«, fügte er mit einem schiefen Lächeln hinzu.
»Du hättest nicht mitkommen sollen, Vater«, tadelte ihn Rabea besorgt. »Es ist unwirtlich und fast schon gespenstisch hier oben«, stellte sie dann leise fest und blickte zu Helge hinüber. »Ich würde hier oben nicht allein sein wollen.«
Ein amüsiertes Lächeln glitt über das Gesicht ihres Vaters.
»Glaub mir, wenn wir erst einmal länger hier sind, wirst du dir ab und an noch wünschen, allein sein zu können. Vielleicht aber auch nicht!«, fügte er mit einem Zwinkern zu Helge hinzu.
Der gute Zustand, in dem sich der alte Gasthof befand, war für alle eine freudige Überraschung, zumal bis auf drei Zimmer, die direkt unterm
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