Das Erbe des Greifen
»Nein, ich glaube nicht. Ich denke, dass selbst wenn Belior persönlich auf den Stufen des Tempels erschienen wäre, sie nicht zurückgeschreckt wäre. Ich weiß nicht, ob es überhaupt etwas auf dieser Welt gibt, das Elyra in diesem Moment davon abgehalten hätte, das Haus ihrer Herrin zu öffnen!« Er schüttelte erheitert den Kopf. »Ein Kind, in bestem Sonntagsgewand, mit Blumen geschmückt, gehörte gewiss nicht dazu …«
Elyra ignorierte das Geraune hinter sich und ließ das Kind nicht aus den Augen. Die Hände im Schoß gefaltet, das lange blonde Haar frisch gebürstet, saß es da und regte sich nicht. Zwei schmale Zöpfe hielten seine Haare, die mit Blumen geschmückt waren. Dazu trug es ein blaues Kleid aus feinster Seide, das hier und da mit feinem Goldbrokat verziert war. Auf die Entfernung war sein Alter schwer einzuschätzen, aber Elyra gab ihm an die acht oder zehn Jahre. Das Ungeheuer zu seinen Füßen mochte vielleicht einmal ein Hund oder ein Wolf gewesen sein, zumindest ähnelte es einem solchen am meisten. Nur dass weder ein Wolf noch ein Hund jemals die Schulterhöhe eines Pferdes erreichten, sechs Beine besaßen und anstelle eines Fells ölig schwarz schimmernde Panzerplatten. Der Hund, wenn man das Geschöpf so nennen wollte, lag auf der untersten Tempelstufe quer vor den Füßen des Mädchens und hob nun langsam seinen mächtigen Schädel, um zu schauen, wer die Fremden waren, die da kamen. Ein blaues und ein grünes Auge musterte die Neuankömmlinge scharf und verständig, als ob er ein menschliches Wesen wäre, dann erhob er sich gemächlich, zog die Lefzen hoch und zeigte dabei seine langen, scharfen Zähne, die länger als die Klinge mancher Stiefeldolche waren.
»Bitte bleibt zurück«, befahl Elyra ihren Begleitern leise.
»Kommt gar nicht in Frage«, protestierte Astrak wie erwartet, und Elyra seufzte. »Ich bin …«
»Ich weiß, wer du bist«, flüsterte er, als er neben sie trat. »Aber selbst wenn du es mir befiehlst, werde ich deinen Befehl nicht befolgen. Ich lasse dich nicht alleine in den Tempel hineingehen. Tarlon würde mich umbringen.«
Bei der Nennung von Tarions Namen spürte Elyra einen leichten Stich in ihrer Brust und atmete tief durch. Doch sie wusste, wenn Astrak in diesem Ton mit jemand sprach, dann war es ihm ernst.
»Überlass mir wenigstens das Reden, ja?«
»Das kannst du sowieso besser als ich.«
»Astrak?«
»Ja?«
»Sssschhh.«
Er sagte nichts weiter, als sie langsam den überwucherten Weg zum Tempeleingang hinaufgingen, und Elyra war nun trotz ihrer Proteste froh, dass sie nicht alleine war. Näher und näher kamen sie dem Tor des Tempels, dem Mädchen und dem Schreckenswolf, wie Astrak das Biest bei sich nannte.
Noch immer hatte das Mädchen sich nicht gerührt, doch jetzt konnten sie sehen, dass sich seine Brust hob und senkte, es also kein Geist, keine Erscheinung, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut war. Wie es allerdings sein konnte, dass es hier war, konnten sich weder Astrak noch Elyra erklären.
Schließlich waren sie nahe genug heran, um das Hecheln des Schreckenswolfes hören zu können. Schaute sie das Mädchen noch immer nicht an, musterte der Wolf sie dafür umso aufmerksamer.
»Ich hoffe, er beißt nicht!«, platzte Astrak heraus, und hielt sich im nächsten Moment den Mund zu.
Darauf war ein leises helles Lachen zu hören, und das Mädchen hob den Kopf. Ein feines Lächeln spielte um seine fein gezeichneten Lippen, und seine Nasenflügel bebten, als ob es wie der Schreckenwolf neben ihm nun die Witterung seiner Gäste aufnehmen würde.
»Nur wenn ich es ihm sage«, lächelte das Mädchen. »Ich wurde gesandt, Euch im Haus der Herrin willkommen zu heißen, Dienerin der Mistral und Hoffnung der Verlorenen.«
»Ich danke dir«, erwiderte Elyra mühsam, mehr brachte sie nicht heraus, zu groß war ihre Überraschung und … der Schreck!
»Du hast keine Augen!«, entfuhr es Astrak, und Elyra funkelte ihn wütend an.
»Astrak!«, rief sie erzürnt.
»Jetzt verstehe ich, warum Ihr ihm den Mund verbieten wolltet«, lächelte das Mädchen, erhob sich und strich mit einer eleganten Geste sein Kleid glatt. Jetzt, wo es stand, konnten sie auch erkennen, dass es weit älter war, als sie angenommen hatten. Sie hatten eine junge Frau von vielleicht fünfzehn oder sechzehn Jahren vor sich, deren zierlicher Körperbau sie in die Irre geführt hatte.
»Aber er spricht die Dinge offen an und …«
»Ihr seid bildschön!«, stammelte
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