Das Erbe des Greifen
Astrak. »Es ist … es ist, als ob es so sein sollte, dass Ihr keine Augen habt, nicht als ob sie Euch fehlen würden … wie ist das möglich? Ihr seht durch die Augen des Hundes, nicht wahr? Und mit Euren anderen Sinnen? Ich möchte wetten, Ihr nehmt die Welt ganz anders wahr und …«
»Astrak!«, fuhr ihn Elyra erneut an, aber er schien sie nicht zu hören. Abgesehen davon stimmte es, was er sagte. Unter der glatten, porzellanfarbenen Haut der jungen Frau waren zwar Augenhöhlen erkennbar, doch diese waren von keinen Lidern umgeben, sondern von glatter Haut überzogen, die in sanftem Bogen zu einer hohen Stirn hinaufführte, die von Blumen bekränzt wurde. Sie war makellos, dachte Astrak, außergewöhnlich, fremdartig und … wunderschön!
Eine feine Röte stieg ihr in die weißen Wangen, und als der Schreckenswolf nun auch noch zu bellen anfing, zuckten Astrak und Elyra zusammen. Der Blick des Hundes war intensiver geworden, durchdringend und nachdenklich zugleich. Langsam erhob er sich und ging auf Astrak zu.
Der spürte, wie sein Herz zu rasen begann, aber nicht aus Angst, sondern weil er das Gefühl hatte, dass dieser Moment sein Leben verändern würde und alles, was bisher gewesen war, dagegen verblasste. Ohne den Blick von dem Mädchen zu nehmen, hob er seine Hand und hielt sie dem furchteinflößenden Wolf hin. Dieser senkte seinen mächtigen Kopf und schnupperte an ihr. Und während Astrak noch immer das Mädchen anstarrte, fühlte er sich, als ob er vom Blitz getroffen worden wäre.
Plötzlich trat der Wolf zurück und ließ sich auf seine Hinterläufe nieder, er legte den Kopf zur Seite, sah von Astrak zu Elyra, von Elyra zu Astrak und dann wieder zu seiner Herrin. Mit einem leisen »Wuff«, ließ er sich schließlich völlig zu Boden sinken und schloss die Augen, der mächtige Schwanz wedelte noch zwei- dreimal, dann lag er still.
»Astrak?«
Doch der Sohn des Alchimisten reagierte noch immer nicht, er stand nur da und starrte das Mädchen an. »Astrak!«
Es mochte die Schärfe in Elyras Stimme sein oder die Tatsache, dass sie ihm hart mit dem Ellenbogen in die Seite stieß, jedenfalls kehrte Astrak nunmehr wieder in die Realität zurück!
»Verzeih«, stammelte er. »Ich …«
»Astrak«, mahnte Elyra leise, aber deutlich. »Wenn du noch einen Ton sagst, wird du es bereuen!«
»Er bereut es jetzt schon«, lächelte das Mädchen. »Mein Name ist Lenise. Und dies hier ist Trok, mein treuer Begleiter und Wächter. Wie Euer Freund heißt, weiß ich ja nun, aber wie lautet Euer Name, Dienerin der Mistral?«
»Elyra«, antwortete die junge Halbelfe verlegen, doch der Blick, den sie Astrak gleichzeitig zuwarf, ließ den jungen Mann für später nichts Gutes ahnen. »Ihr müsst ihm verzeihen, er ist manchmal … etwas ungestüm.«
»Es gibt nichts zu verzeihen. Er ist ehrlich, und das alleine zählt.«
Lenise legte ihren Kopf etwas schräg, als ob sie Astrak mustern würde, dann lächelte sie erneut.
»Wie ich schon sagte, seid mir willkommen, Elyra, Dienerin der Mistral. Ihr ahnt nicht, wie sehr Euer Kommen ersehnt wurde. Wir haben auf Euch gewartet, Elyra, seit dem Tag des Untergangs. Wir haben hier ausgeharrt, über das Haus der Göttin gewacht und jeden Tag dafür gebetet, dass sie uns verzeihen möge. Willkommen zurück, Priesterin der Göttin der Welten.«
Mit diesen Worten sank sie anmutig vor Elyra in die Knie.
»Segnet mich«, bat sie leise, so leise, dass Elyra sie fast nicht verstehen konnte. »Nehmt meine Sünden und die meiner Ahnen von mir und lasst mich der Vergebung derjenigen teilhaftig werden, die unser aller Leben, Herzen und Seelen bestimmt. Segnet mich, ich bitte Euch darum, und erlasst mir meine Sünden.«
Elyra schluckte. So leise die Stimme der jungen Frau auch war, sosehr konnte Elyra doch die Sehnsucht, die Angst, das Flehen und die Hoffnung spüren, die in ihr lagen.
»Im Namen Mistrals«, begann sie und stockte, denn ihre eigenen Worte schienen ihr auf einmal ganz anders zu klingen und einen Widerhall zu erzeugen, als ob die Luft um sie herum pulsieren würde. Sie holte tief Luft. »Im Namen der Göttin der Welten, in ihrem Licht und in ihrer Weisheit. Mögen deine Sünden von dir genommen werden.« Ein goldener Schimmer ging nun von dem schweren Symbol aus, das die junge Priesterin um ihrem schlanken Hals trug. Das Schimmern nahm zu und breitete sich aus, bis es schließlich die gesamte heilige Robe der Priesterin umspielte und Elyra mit etwas Unbeschreiblichem
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