Das Erbe des Zauberers
großes Bündel aus alter Kleidung. Esks strenger Blick ließ ihr Lächeln verblassen.
»Nun, in der Stadt geht es anders zu«, erklärte Oma Wetterwachs. »Städter wollen dauernd wissen, was die Zukunft für sie bereithält. Das liegt an ihrer ungesunden Ernährung.«
Sie fühlte sich plötzlich in die Enge getrieben und fügte hinzu: »Außerdem: Warum sollte ich mich nicht ab und zu als Wahrsagerin betätigen?«
»Du hast immer gesagt, Hilta nutze die Dummheit ihres Geschlechts aus«, erwiderte Esk. »Du warst immer der Ansicht, alle Wahrsager und Hellseher sollten sich was schämen. Und was das ›außerdem‹ betrifft: Du braucht keine neue alte Kleidung.«
»Spare in der Zeit, so hast du in der Not«, verkündete Granny stolz. Eins der wichtigsten Prinzipien ihres Lebens bestand darin, alte Kleidung zu tragen, und von diesem Grundsatz wollte sie nicht einmal während zeitweisem Wohlstand abweichen.
»Ja«, brummte Esk und nickte langsam. »Nun, die Zauberermagie … Es geht dabei nur um Worte.«
»Darauf habe ich dich gleich zu Anfang hingewiesen«, betonte Oma Wetterwachs.
»Nein, ich meine …«, begann Esk, aber Granny hob ungeduldig die Hand.
»Verschieben wir dieses Gespräch auf einen späteren Zeitpunkt«, schlug sie vor. »Ich muß bis heute abend einige wichtige Aufträge erfüllen. Wenn meine Geschäfte weiterhin so gut laufen, bleibt mir wahrscheinlich nichts anderes übrig, als jemanden einzustellen. Was hältst du davon, wenn du mir an deinem freien Nachmittag oder so einen Besuch abstattest?«
»Du willst jemanden einstellen?«, fragte Eskarina verblüfft. »Eine Schülerin aufnehmen und zur Hexe ausbilden?«
»Nein«, sagte Granny. »Ich meine: vielleicht doch.«
»Und was ist mit mir?«
»Nun, du mußt deinen eigenen Weg beschreiten«, meinte Granny. »Wohin er dich auch führen mag.«
»Mmpf«, machte Esk. Die alte Frau starrte sie groß an.
»Ich sollte jetzt besser gehen«, brachte sie schließlich hervor, drehte sich um und marschierte in Richtung Küche davon. Dabei öffnete sich ihr Mantel, und Esk riß unwillkürlich die Augen auf, als sie einen roten Saum sah. Es war ein ziemlich dunkles Rot, wie von altem Wein, aber es kam trotzdem einem Schock gleich. Oma Wetterwachs, die für ihre sichtbare Kleidung normalerweise nichts anderes wählte als abgenutztes Schwarz, erschien dem Mädchen plötzlich wie eine kunterbunte Fremde.
»Die Bibliothek?«, fragte Frau Reineweiß. »Isch glaube, dort wird überhaupt nicht gefegt.«
In offensichtlicher Verwirrung runzelte sie die Stirn.
»Warum nicht?«, erkundigte sich Eskarina. »Liegt dort kein Staub?«
»Tja …«
Die Haushälterin überlegte angestrengt. »Vermutlich schon. Jetzt, da du es erwähnst … Ist mir noch nie in den Sinn gekommen.«
»Alle anderen Zimmer sind sauber«, warf Esk wie beiläufig ein. »Ja«, sagte Frau Reineweiß. »Du bist sehr fleißig.«
»Nun?«
»Isch weiß nicht«, erwiderte sie unsicher und schüttelte den Kopf. »Hab’ noch nie darüber nachgedacht. Aber jetzt frage isch mich ernsthaft, wieso in der Bibliothek noch nie abgestaubt wurde. Alle die vielen Bücher …«
»Ich mache mich sofort an die Arbeit«, sagte Esk fest.
»Ugh?«, fragte der Bibliothekar und wich vor Eskarina zurück. Aber sie hatte schon von ihm gehört und war nicht unvorbereitet gekommen: Sie holte eine Banane hervor.
Der Orang-Utan streckte langsam die Pfote aus, schnappte sich die Frucht und grunzte triumphierend.
Sicher existieren Universen, in denen die Tätigkeit eines Bibliothekars recht beschaulich ist und die Berufsrisiken darauf beschränkt sind, daß Bücher aus den Regalen rutschen und einem auf den Kopf fallen. Aber wer für eine magische Bibliothek die Verantwortung trägt, muß ständig auf der Hut sein. Zaubersprüche verkörpern große Macht, und die wird nicht dadurch reduziert, daß man die Formeln niederschreibt und zwischen zwei Buchdeckel zwängt. Die Magie sucht immer nach dem sprichwörtlichen Ventil. Und die Bücher neigen dazu, aufeinander zu reagieren, wodurch formlose und mit einem eigenen Willen ausgestattete thaumaturgische Energie freigesetzt wird. Magische Werke sind für gewöhnlich an die Regale gekettet, aber nicht etwa um Diebstählen vorzubeugen …
Eine besonders schicksalhafte magische Entladung hatte den Bibliothekar in einen Affen verwandelt, der allen Versuchen widerstand, ihm die menschliche Gestalt zurückzugeben. Mit Hilfe der Gestensprache und ausdrucksvollen
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