Das Erbe des Zauberers
darauf?«
Simon nickte ernst. »Ja. Jedes einzelne B-Blatt wwww …«
»Nein«, sagte Esk. »Ich will es mir nicht einmal vorstellen. Ich dachte bisher, lesen sei überhaupt nicht gefährlich. Ich meine: Granny las jeden Tag in ihrem Almanach, und ihr ist nie irgend etwas zugestoßen.«
»Von ganz gewwwöhnlichen Wwww …«
»… Wörtern …«
»… d-droht vermutlich k-keine Gefahr«, räumte Simon großzügig ein. »Bist du völlig sicher?«, fragte Esk.
»Man m-muß nur d-daran denken, daß Wwwörter auch mächtig sssein k-können«, sagte Simon und schob das Buch ins Regal zurück, wo es zornig an der Kette zerrte. »Außerdem h-heißt es, d-die Feder sssei mmächtiger als das Ssss …«
»… Schwert«, warf Esk hilfsbereit ein. »Mag sein. Aber mal ganz ehrlich: Von was möchtest du lieber geschlagen werden?«
»Äh, ich schätze, es h-hat keinen Sssinn, wwwenn ich d-dich darauf hinwwweise, daß du h-hier nichts zu sssuchen h-hast, oder?«
Esk dachte kurz darüber nach. »Nein«, bestätigte sie dann. »Wohl kaum.«
»Ich könnte d-die Pförtner v-verständigen und dich f-fortbringen lassen.«
»Aber das wirst du nicht.«
»Ich m-möchte n-nur vvvvv …«
»… vermeiden …«
»… daß du in Schwierigkeiten g-gerätst. Das wwwwürde ich ssssehr bedauern. Wwwwenn dir etwas zustieße …«
Das leise Knistern in den Regalen wurde zu einem verzweifelten Rascheln. Einige der mächtigeren Bücher schafften es, aus den Regalen zu springen: Panikerfüllt flatterten sie am Ende ihrer Ketten. Ein großer thaumaturgischer Band verließ seinen Horst auf der obersten Ablage, riß sich von den stählernen Fesseln los und hüpfte wie ein erschrockenes Huhn davon. Einige fransige Blätter folgten ihm wie Küken.
Ein magischer Wind wehte Eskarinas Kopftuch zur Seite, und ihr Haar wogte wie ein Banner. Sie sah, wie Simon sich an einem Gestell festzuhalten versuchte, als um ihn herum Bücher explodierten. Die Luft wurde schmierig und roch nach heißem Zinn. Irgendwo summte etwas.
»Sie versuchen, hierherzukommen!«, rief Esk.
Simon starrte sie an und schnitt eine Grimasse. Eine vor Furcht übergeschnappte magische Trilogie prallte ihm gegen den verlängerten Rücken, schleuderte ihn zu Boden und hastete an den Regalen entlang. Eskarina duckte sich, als ein Therausi-Schwarm vorbeiraste und sein Gerüst hinter sich herzog. Auf Händen und Knien kroch sie an Simon heran. »Deshalb haben die Bücher solche Angst!«, schrie sie ihm ins Ohr. »Kannst du sie nicht sehen? Sie lauern dort oben!«
Simon schüttelte stumm den Kopf. Über ihnen lösten sich mehrere Buchdeckel, und Dutzende zitternder Blätter sanken auf sie herab.
Die verschiedenen menschlichen Sinne stellen gute Übertragungskanäle für Grauen und Entsetzen dar. Man denke nur an das leise unheilvolle Kichern in einem verschlossenen und stockfinsteren Zimmer, an den Anblick einer halben Raupe auf der Salatgabel, den sonderbaren Geruch aus dem Schlafzimmer des Untermieters, den eigentümlich bitteren Geschmack eines mit sogenannten Pflanzenschutzmitteln behandelten Blumenkohls. Und was den Tastsinn angeht: Stellen Sie sich vor, Sie drehen sich des Nachts im Bett um und berühren etwas Pelziges (dies gilt nur für die Leser unter Ihnen, die keine Hunde und Katzen halten und ihr Bett auch nicht gern mit Hamstern teilen)…
Der Boden unter Esks Händen veränderte sich irgendwie. Sie senkte den Kopf, das Gesicht eine Fratze des Schreckens: Die staubigen Dielen fühlten sich plötzlich sandig an. Und trocken. Und sehr, sehr kalt.
Esks Finger bohrten sich in feinen grauen Sand.
Sie schirmte die Augen vor dem Wind ab, griff nach dem Zauberstab und richtete ihn auf die dämonischen Gestalten weiter oben. Es wäre sicher erfreulich gewesen zu berichten, daß ein greller Strahl aus magischem weißem Feuer aufblitzte und die schmierige Luft reinigte. Doch leider blieb er aus …
Der Stab wand sich wie eine Schlange hin und her und traf Simon am Kopf.
Die grauen Kreaturen erbebten und verschwanden.
Die Realität kehrte zurück und versuchte den Anschein zu erwecken, als habe sie sich überhaupt nicht aus dem Staub gemacht. Stille senkte sich wie dicker weicher Samt herab, eine Schicht nach der anderen – eine dumpfe, düstere und recht laute Stille. Einige Bücher fielen zu Boden und kamen sich ziemlich dumm vor.
Der Boden unter Eskarina bestand wieder aus festem Holz. Sie stampfte auf, um ganz sicher zu sein.
Blut bildete eine kleine Lache unter
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