Das Erbe des Zauberers
›Ughs!‹ erklärte er, das Leben als Orang-Utan sei erheblich besser als das eines Menschen, da alle großen philosophischen Probleme auf die Frage zurückgeführt werden könnten, woher die nächste Banane kam. Außerdem erwiesen sich lange Arme und Greiffüße durchaus von Vorteil, wenn es darum ging, an hohen Bücherschränken hochzuklettern.
Eskarina gab ihm auch die restlichen Bananen und wandte sich den Büchern zu, bevor der Bibliothekar Gelegenheit bekam, irgendwelche Einwände zu erheben.
Sie hatte nie mehr als ein Buch gleichzeitig gesehen und hielt die Bibliothek für ganz normal. Zugegeben, mit dem Boden schien etwas nicht in Ordnung zu sein, denn er wölbte sich wie eine Schüssel und schien weiter hinten als Wand emporzuragen. Darüber hinaus gewann sie den verwirrenden Eindruck, als bögen sich die Regale. Es war, als erstreckten sie sich durch mehr als die gewöhnlichen drei Dimensionen. Überraschenderweise wies auch die Decke lange Gestellreihen auf, und hier und dort wanderte ein Student an ihnen entlang, ohne den Gesetzen der Schwerkraft Beachtung zu schenken.
Nun, der Leser ahnt es bereits: Die Zusammenballung von Magie krümmt natürlich den Raum. Der Baumwolldrillich (oder vielleicht auch Flanell) in den Regalen wurde in besondere Formen gezwungen. Millionen gefangene Worte, für die es keine Fluchtmöglichkeit gab, verzerrten die Realität in ihrer unmittelbaren Nähe.
Esk hielt es für logisch, daß sich irgendwo ein Buch befand, aus dem sie entnehmen konnte, wie man all die anderen las. Sie wußte nicht genau, wo sie danach suchen sollte, aber aus irgendeinem Grund erwarteten sie auf dem Deckel Abbildungen fröhlicher Kaninchen und verspielter Kätzchen.
In der Bibliothek war es nicht gerade still. Hier und dort zischten magische Entladungen, und oktarine Funken sausten mit leisem Fauchen von Regal zu Regal. Ketten rasselten leise. Hinzu kam das knisternde Rascheln vieler tausend Blätter in ihren lederumhüllten Kerkern.
Esk vergewisserte sich, daß niemand auf sie achtete, bevor sie nach dem nächsten Buch griff. Es öffnete sich von selbst, und zu ihrem großen Verdruß mußte sie feststellen, daß es jene unverständlichen Zeichen enthielt, die sie bereits aus Simons Unterlagen kannte. Die Symbole ergaben nicht den geringsten Sinn, und Esk seufzte erleichtert: Es wäre schrecklich gewesen, alle die Hieroglyphen deuten zu können. Sie bestanden aus häßlichen Wesen, die dauernd irgendwelche rätselhaften Dinge miteinander anstellten. Esk klappte das Buch zu, wobei sie gegen den Widerstand der magischen Silben ankämpfen mußte. Der Deckel zeigte ein seltsames Geschöpf, das eine verdächtig große Ähnlichkeit mit den Wesenheiten aus der kalten Wüste offenbarte. Es sah keineswegs wie ein munteres Häschen aus.
»Heda? Esk, nicht wwwahr? Www-wie bist du h-hiergekommen?«
Simon trat auf sie zu, ein Buch unter den Arm geklemmt. Eskarina errötete.
»Granny weicht mir immer wieder aus«, antwortete sie. »Ich glaube, es hat irgend etwas mit Männern und Frauen zu tun.«
Simon starrte sie groß an und zwinkerte verdutzt. Dann lächelte er. Esk rief sich seine Frage ins Gedächtnis zurück.
»Ich arbeite hier. Ich fege.«
Sie hob den als Besen getarnten Zauberstab.
»Nun, eigentlich stimmt das nicht. Ich lerne lesen, damit ich Zauberer werden kann.«
Der junge Mann wischte sich einige Tränen aus den wäßrigen Augen und beobachtete sie einige Sekunden lang. Dann nahm er ihr vorsichtig das Buch aus der Hand und las den Titel.
»Dämonysche Dämonology der Befrydygung von Unbefrydygten. Hältst du das für ein Lehrbuch über die K-Kunst des Lesens?«
»Äh«, erwiderte Esk. »Nun, tja … Es geht doch darum, die Schriftzeichen zu deuten, nicht wahr? Man darf nicht aufgeben, muß es immer wieder versuchen. Irgendwann hat man den Bogen raus. So wie beim Melken oder Stricken oder …«
Ihre Stimme verklang.
»Was soll das heißen?«
»Ich habe gggg …«
»… gehört …«, half Eskarina.
»… daß es einst ai-einen Zauberer gggg …«
»… gab …«
»… d-der das Nekrotelicomnicon l-las und dabei ssseine G-Gedanken umherwwww …«
»… wandern …«
»… ließ. K-Kurze Zeit später f-fand man sssseine Kleidung auf aieinem Stuhl, und der H-Hut lag d-daneben, und d-das B-Buch …«
Esk hielt sich die Ohren zu – aber nicht zu fest, um auch die nächsten Worte Simons zu verstehen.
Eskarina ließ die Hände sinken. »Stand irgend etwas
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