Das Erbe des Zauberers
der Nacht. Die düstere Finsternis im Zimmer verdichtete sich, und die Kreideworte begannen zu glühen. Die Tafel wirkte nicht mehr in dem Sinne schwarz: Esk gewann den Eindruck, daß sie sich nach und nach auflöste, zu einem quadratischen Loch in der Außenwand des Universums wurde.
Simon sprach weiter über die Welt, die aus winzigen Dingen bestehe, deren Präsenz man nur durch die Tatsache bestimmen könnte, daß sie gar nicht vorhanden seien. Er beschrieb sie als kleine Kugeln aus Nichts, die sich rasend schnell um die eigene Achse drehten. Magie, so erklärte, sei in der Lage, sie zusammenzuschweißen, so daß sich daraus Sterne, Schmetterlinge und Diamanten formten. Alles bestehe aus gestaltloser Leere, behauptete er.
Und sonderbarerweise schien ihn das zu begeistern.
Esk stellte fest, daß die Wände des Zimmers an Substanz verloren und sich in dünnen Rauch verwandelten. Es hatte den Anschein, als dehne sich die Leere in ihnen aus, um alles das zu verschlingen, was sie als Mauern bezeichnete. Sie verflüchtigten sich, und Eskarinas Blick fiel auf eine vertraute Landschaft, eine glitzernde kalte Ebene. In der Ferne erhoben sich die ihr bereits vertrauten alten Hügel, und als sie den Kopf drehte, sah sie die Unheilswesen, die wie Statuen in der Nähe hockten und auf sie herabstarrten.
Es waren mehr als jemals zuvor: wie von einem hellen Licht angelockte Motten.
Mit einem nicht unerheblichen Unterschied: Selbst aus unmittelbarer Nähe betrachtet, wirkte das Gesicht einer Motte weitaus lieblicher als die Mienen der Geschöpfe, die Simon beobachteten.
Dann trat ein Bediensteter ins Klassenzimmer, um die Lampen anzuzünden, und die dämonischen Kreaturen verschwanden. Sie metamorphierten zu harmlosen Schatten, die sich in die Ecken der Kammer zurückzogen.
Vor einigen Jahren hatte irgend jemand beschlossen, die uralten Korridore der Unsichtbaren Universität mit einem neuen Anstrich freundlicher zu gestalten. Es ging dabei um die vage Idee von ›Lernen-soll-Spaßmachen‹. Nun, der Versuch schlug fehl. Es ist im ganzen Multiversum bekannt: Man mag die Farben mit noch so großer Sorgfalt aussuchen – die Korridore und Flure in öffentlichen Institutionen entwickeln eine Art bürokratisches Eigenleben und ziehen Gallegrün, Kotbraun, Nikotingelb oder ein klinisch-steriles Rosa vor. Infolge einer bisher wenig erforschten Mitleidsresonanz riechen derartige Gänge immer nach gekochtem Kohl, selbst dann, wenn die nächste Küche meilenweit entfernt ist.
Irgendwo läutete eine Glocke. Esk sprang vom Fenstersims, griff nach dem getarnten Zauberstab und begann fleißig zu fegen. Unmittelbar darauf öffneten sich die Türen der Klassenzimmer, und der Korridor füllte sich mit Schülern. An zwei Seiten strömten sie an ihr vorbei, wie Wasser an einem Felsen. Eine Zeitlang herrschte lärmendes Durcheinander. Dann schlossen sich die Türen, und einige Nachzügler verschwanden in der Ferne. Esk war wieder allein.
Nicht zum erstenmal wünschte sie sich, es möge doch eine Unterhaltung mit dem Zauberstab möglich sein. Die anderen Dienstmädchen verhielten sich ihr gegenüber recht freundlich, aber man konnte nicht mit ihnen sprechen. Jedenfalls nicht über Magie.
Eskarina gelangte allmählich zu dem Schluß, daß sie endlich lesen lernen mußte. Bücher stellten offenbar den Schlüssel zur Zaubermagie dar, bei der es hauptsächlich um Worte ging. Die älteren Magier schienen zu glauben, Namen würden mit Dingen übereinstimmen. Wenn man ihnen andere Namen gab, so veränderten sie sich angeblich. Esk wußte nicht genau, ob das wirklich stimmte. Sie bewahrte sich in dieser Hinsicht einen gesunden Zweifel.
Lesen. Mit anderen Worten: die Bibliothek. Simon hatte behauptet, dort befänden sich Tausende von Büchern, und unter all den vielen Worten sollte sich das eine oder andere finden lassen, das Esk lesen konnte. Sie schulterte den Zauberstab und beschloß, das Büro von Frau Reineweiß aufzusuchen.
Sie hatte es fast erreicht, als die Wand ein leises ›Pscht!‹ flüsterte. Als Eskarina stehenblieb und sich umdrehte, sah sie Oma Wetterwachs. Nun, Granny war nicht etwa imstande, unsichtbar zu werden. Sie verstand es nur, so mit dem Vordergrund zu verschmelzen, daß sie niemand bemerkte.
»Wie kommst du voran?«, fragte die alte Hexe. »Was ist mit der Magie?«
»Was tust du hier, Oma?«, erwiderte Esk.
»Ich habe gerade einen Blick in die Zukunft geworfen. Für die Haushälterin.«
Zufrieden hob Granny ein
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