Das Erbe des Zauberers
Simons Schädel. Der junge Mann rührte sich nicht. Esk beobachtete ihn eine Zeitlang, starrte dann auf den Zauberstab. Selbstgefällig erwiderte er ihren Blick.
In der Ferne erklangen Stimmen und das Geräusch eiliger Schritte.
Eine ledrige Hand schloß sich um Esks Finger, und hinter ihr sagte jemand leise: »Ugh.«
Sie drehte sich um und sah das von rotem Fell umrahmte, freundliche Gesicht des Bibliothekars. Er bedeutete ihr mit einer unmißverständlichen Geste, mucksmäuschenstill zu sein, zerrte sie behutsam am Arm.
»Ich habe ihn umgebracht«, hauchte das Mädchen.
Der Bibliothekar schüttelte den Kopf und zog etwas entschlossener. »Ugh«, erklärte er. »Ugh«.
Er führte Esk durch einen schmalen Tunnel in dem Labyrinth aus uralten Regalen, und nur wenige Sekunden später kamen einige ältere Zauberer um die Ecke, angelockt vom Lärm.
»Die Bücher haben schon wieder gegeneinander gekämpft …«
»Oh, nein! Es wird Jahrhunderte dauern, um alle geflohenen Zaubersprüche einzufangen. Bestimmt haben sie sich gut versteckt …«
»Was liegt da auf dem Boden?«
Kurzes Schweigen folgte.
»Er hat das Bewußtsein verloren. Offenbar wurde er von einem umstürzenden Regal am Kopf getroffen.«
»Wer ist er?«
»Der neue Schüler. Derjenige, von dem es heißt, er habe den Kopf voller Grütze.«
»Nun, wäre der Aufprall ein wenig stärker gewesen, wüßten wir jetzt, ob man das zu Recht von ihm behauptet.«
»Ihr beiden: Bringt ihn ins Krankenzimmer. Die anderen sammeln die Bücher ein. Wo steckt der blöde Bibliothekar? Er müßte doch wissen, wie gefährlich es ist, eine Kritische Masse entstehen zu lassen.«
Esk sah den Orang-Utan an, der daraufhin stumm die Brauen hob. Er zog einen staubigen Band mit Gartenformeln aus dem Regal neben ihm, holte eine Banane hervor, die er dahinter versteckt hatte, und verspeiste sie genüßlich. Er schien ganz sicher zu sein, daß alle Probleme einzig und allein die Menschen betrafen.
Eskarina blickte in die andere Richtung, auf den Stab, den sie noch immer in der Hand hielt, preßte die Lippen so fest zusammen, daß sie nur noch einen weißen Strich bildeten. Sie war ganz sicher, den verdammten Stock nicht losgelassen zu haben. Er hatte sich auf Simon gestürzt, mit der festen Absicht, ihn zu töten.
Der junge Mann lag auf einem harten Bett, und auf seiner Stirn ruhte ein feuchtkaltes Handtuch. Treatle und Knallwinkel starrten besorgt auf die reglose Gestalt hinab.
»Wie lange ist er jetzt schon bewußtlos?«, fragte der Erzkanzler. Treatle zuckte mit den Schultern. »Seit drei Tagen.«
»Und er ist kein einziges Mal zu sich gekommen?«
»Nein.«
Knallwinkel ließ sich auf die Bettkante sinken und rieb sich nachdenklich den Nasenrücken. Simon hatte nicht besonders gesund ausgesehen, aber jetzt wirkte sein Gesicht wie eine eingefallene Totenmaske.
»Ein vielversprechender Schüler, der es sicher weit bringen könnte«, sagte er. »Seine Erklärungen in Hinsicht auf die fundamentalen Prinzipien von Magie und Materie sind wirklich … bemerkenswert.«
Treatle nickte.
»Er scheint Wissen geradezu aufzusaugen«, fuhr Knallwinkel fort. »Lieber Himmel, schon seit Jahrzehnten lebe und arbeite ich als Zauberer, aber eigentlich habe ich die Magie erst durch seine Erläuterungen begriffen. Er drückt sich so … so klar und verständlich aus.«
»Das sagen alle«, bestätigte Treatle niedergeschlagen. »Unsere Kollegen beschreiben es folgendermaßen: Es sei so, als ziehe ihnen jemand eine Kapuze vom Kopf und gebe ihnen die Möglichkeit, zum erstenmal in ihrem Leben helles Tageslicht zu sehen.«
Eine nachdenkliche Pause schloß sich an. »Allerdings …«, fügte Treatle hinzu. »Allerdings was?«, fragte Knallwinkel.
»Ich frage mich nur, was wir verstanden haben«, sagte der Vizekanzler vorsichtig. »Das läßt mich nicht zur Ruhe kommen. Ich meine: Kannst du es erklären?«
»Was soll das heißen: erklären?«
Knallwinkel runzelte besorgt die Stirn.
»Worüber Simon dauernd spricht«, entgegnete Treatle. In seiner Stimme ließ sich ein Unterton von Verzweiflung vernehmen. »Oh, sicher, mit seinen Beschreibungen trifft er genau den Kern der Sache, daran kann gar kein Zweifel bestehen. Doch worum geht es dabei?«
Knallwinkel starrte ihn groß an. Schließlich erwiderte er: »Oh, das ist ganz einfach. Weißt du, Magie füllt das Universum, und jedesmal dann, wenn sich der Kosmos verändert … Nein, ich meine: Jedesmal dann, wenn Magie beschworen wird,
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