Das Erbe des Zauberers
dein Erlebnis. Ohne die Hilfe des Zauberstabs hätte ich dich vermutlich nicht lokalisieren können … He, wo steckt er überhaupt, Mädchen?«
»Er hat Simon geschlagen«, murmelte Eskarina. »Er hat versucht, ihn umzubringen. Und deshalb habe ich ihn in den Fluß geworfen.«
»Das war nicht besonders nett von dir«, tadelte Oma Wetterwachs. »Immerhin verdankst du ihm dein Leben.«
»Er hat mich gerettet, indem er Simon niederstreckte?«
»Das stimmt nicht!«
»Und warum soll das nicht stimmen, Fräulein Ich-weiß-alles?«, fragte sie.
»So etwas würde er nie wagen!«
Esk war inzwischen den Tränen nahe. »Ich habe einen seiner Vorträge gehört. Er … Nun, Simon ist nicht etwa böse, sondern sehr klug. Er versteht, wie alles funktioniert. Er …«
»Ich schätze, er ist ein sehr netter Junge«, sagte Oma Wetterwachs trocken. »Außerdem habe ich nie behauptet, er sei ein schwarzer Magier, oder?«
»Die Dinge sind schrecklich!«
Esk schluchzte. »Simon riefe sie nie, er strebt alles das an, was sie nicht verkörpern, und du bist eine gemeine alte …«
Das laute Klatschen einer Ohrfeige unterbrach sie. Eskarina taumelte zurück, so überrascht und entsetzt, daß ihr das Blut aus den Wangen wich. Granny stand zitternd vor ihr, die Hand weiterhin erhoben.
Sie hatte Esk nur einmal zuvor geschlagen – der kleine Klaps, der dem Neugeborenen eine erste Vorstellung von dem vermittelt, was er von der Welt zu erwarten hat. Während der Ausbildung verzichtete sie auf körperliche Strafen, selbst dann wenn Eskarina Milch anbrennen ließ oder vergaß, die Ziegen zu tränken. Bei solchen Gelegenheiten beschränkte sich die alte Hexe auf ein scharfes Wort oder strenge Stille, die weitaus mehr bewirkte als eine Tracht Prügel.
Sie packte das Mädchen fest an den Schultern und sah ihm in die Augen.
»Hör mir jetzt gut zu!«, begann sie mit bedeutungsvoll klingender Stimme. »Habe ich dir nicht immer wieder gesagt, daß man bei der Beschwörung von Magie wie ein Messer sein muß, das durch Wasser schneidet? Na?«
Esk fühlte sich von Grannys durchdringendem Starren fast hypnotisiert und kramte in den untersten Schubladen ihres Gedächtnisses. Schließlich nickte sie.
»Und du dachtest, so etwas sei eben typisch für Hexen, insbesondere für die alte Oma Wetterwachs, nicht wahr? Nun, Tatsache ist: Wenn man Magie einsetzt, erweckt man ihre Aufmerksamkeit. Die ganze Zeit über beobachten sie die Welt. Gewöhnliche Bewußtseine sind nur undeutliche Flecken für sie, denen sie kaum Beachtung schenken. Aber ein mit thaumaturgischer Energie erfüllter Geist wirkt wie ein Leuchtfeuer auf sie. Die Dinge werden nicht von Dunkelheit angelockt, sondern von jenem Licht, das Schatten wirft.«
»Aber … aber … Warum sind sie an uns interessiert? Was wollen sie?« »Leben und Gestalt«, antwortete Granny.
Sie ließ die Schultern hängen und gab Esk frei.
»Eigentlich sollte man sie bemitleiden«, fuhr sie leise fort. »Sie verfügen nur dann über Leben und Gestalt, wenn sie etwas stehlen. Hier in dieser Welt hätten sie kaum größere Überlebenschancen als ein Fisch im Feuer, aber trotzdem geben sie nicht auf. Sie sind gerade intelligent genug, um uns zu hassen, weil wir alles das haben, was sie begehren.«
Eskarina schauderte und entsann sich an staubigen kalten Sand …
»Was sind sie? Bisher habe ich sie für dämonenartige Wesen gehalten …«
»Nun, niemand weiß genau, was sie darstellen. Es sind schlicht Dinge aus den Kerkerdimensionen außerhalb unseres Universums, das ist alles. Schattenkreaturen.«
Die alte Hexe drehte sich um und sah auf Simon hinab.
»Du weißt nicht zufällig, an welchem Ort seine Gedanken weilen, oder?«, fragte sie mit einem kurzen Seitenblick auf Esk. »Er wird wohl kaum einen Ausflug mit den Möwen machen, nehme ich an.«
Eskarina schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte Granny. »In dem Fall wäre er längst zurückgekehrt. Sie haben ihn erwischt.«
Es war keine Frage, aber Esk nickte trotzdem, kummervoll und traurig.
»Es ist nicht deine Schuld«, fuhr Oma Wetterwachs fort. »Sein Geist gewährte ihnen Zugang, und sie zögerten nicht, die gute Gelegenheit sofort auszunutzen. Sie nahmen sein Bewußtsein mit. Ich frage mich …«
Sie trommelte mit den Fingerkuppen auf die Bettkante und traf eine Entscheidung.
»Wer gilt hier als der wichtigste Zauberer?«, erkundigte sie sich.
»Äh, Lord Knallwinkel«, sagte Esk. »Er ist Erzkanzler der Unsichtbaren Universität.
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