Das Erbe
Ich hab hier so eine Regel. Alle fünfzehn Minuten stirbt jemand. Aber ich mach eine Ausnahme für dich, David. Ich gebe dir einen Aufschub von weiteren zehn Minuten, bis ich den Nächsten wähle. Das ist doch fair, oder?«
Ich hörte Tumult im Hintergrund. Schreie. Ich wollte mir nicht vorstellen, welche Panik dort herrschte. War das Rose, die sagte: »Chris, beruhige dich«?
Chris.
Wenn er ausrastete, würde alles außer Kontrolle geraten.
»Du bekommst mich«, sagte ich.
»So einfach ist das nicht. Ich will nicht dein Leben.«
Was wollte er, wenn nicht mein Leben?
»Worum geht es dann?«
»Um deine Seele. Ich will deine Seele, David.« Er lachte. »Mehr nicht.«
Meine Seele.
»Und die anderen bleiben am Leben?«
Eine Weile herrschte Stille am anderen Ende. Ich dachte schon, er würde darauf eingehen, als er sagte: »Jetzt hast du mich auf eine Idee gebracht, David. Mann, das ist so ideal. Dass ich nicht selbst darauf gekommen bin! Du willst verhandeln? Gut. Ich mache dir ein Angebot, das du nicht ablehnen kannst. Sagt dir die Zahl acht etwas?«
Acht.
Acht war für mich keine magische Zahl. Sie war Realität. Wir waren acht Studenten. Vier Mädchen: Katie, Debbie, Julia und Rose. Vier Jungen. Benjamin, Chris, Robert und ich. Acht Studenten, die damals in den Bergen verschwunden waren.
»Ich habe keine Ahnung, worauf du hinauswillst.«
»Acht von den Studenten im Prüfungsraum bleiben hier. Der Rest kann gehen. Und du – du allein kannst sie auswählen.« Er lachte. »Das ist eine einfache Rechnung. Dein Hauptfach ist doch Mathe, oder? Mrs Hill ist bereits tot. Das heißt, hier sind noch fünfundzwanzig weitere Personen. Julia bleibt in jedem Fall hier. Also noch vierundzwanzig Namen. Also, wessen Leben willst du retten? Oder soll ich das Los ziehen?«
Mir stockte der Atem. Jetzt wusste ich, was er mit meiner Seele meinte. Und wie er sie vernichten konnte. Warum kannte er mich so gut? Ihm war klar, wie wenig ich um mein Leben fürchtete. Der Tod war es nicht, was mich erschreckte, sondern die Hölle in meinem Innern. Es war leicht, sein Leben für das anderer zu geben. Es war wesentlich schwieriger, über das anderer zu entscheiden. Tom hatte es begriffen.
»Nein …«
»Ich bin großzügig, David Freeman. Sagen wir nicht zehn Minuten, sagen wir fünfzehn Minuten für die Liste.«
»Ich brauche mehr Zeit. Ich kann nicht so einfach …«, rief ich. Ich konnte so eine Entscheidung nicht treffen. Keiner konnte das.
»Fünfzehn Minuten, sonst muss der Nächste sterben. Du kommst an die Tür. Allein. Ich öffne dir und lasse die gehen, denen du das Leben schenkst. Du kommst herein. Wir verriegeln die Tür und dann wirst du verstehen.«
Wieder gab Harper mir ein Zeichen. Zweimal hob er die zehn Finger in die Luft.
»Nein, warte, lass uns miteinander reden. Zwanzig Minuten. Gib mir zwanzig Minuten.«
»Oh, das habe ich wohl noch nicht erwähnt. Hätte ich fast vergessen. Die Zeit ist knapp. Sie ist bemessen. Ich habe hier wie gesagt noch so eine Kleinigkeit. Kapier es endlich, ich bestimme, wann dieser Film zu Ende ist! Und glaub mir, ich mag Showdowns, bei denen alles in die Luft fliegt. Man sieht sich, David.«
»Tom! Warte!«
Ich hörte ein Klacken. Das Gespräch war beendet.
Flashback
Die Tür zum Schrank stand offen, aber ich bewegte mich nicht.
Ja, ich hätte Jacob nachgehen müssen. Er hatte mich verschont. Ich hätte mit ihm reden, ihn aufhalten müssen. Aber was waren schon Worte? Hätte ich ihn damit erreicht? Ihn, der mir so fremd geworden war. Es hätte keinen Einfluss auf ihn gehabt, das zumindest redete ich mir ein.
Also blieb ich einfach im Schrank sitzen, lauschte auf die Schüsse und Schreie, die von oben zu mir herunterdrangen. Kurz, ich wartete ab, bis es vorbei war. Ich machte das nicht wirklich bewusst. Es fiel eher in die Kategorie, in die auch eine instinktive Handlung fällt. Ich hatte einfach Angst. Vielleicht würde er es sich anders überlegen, wenn ich plötzlich dort draußen auftauchte.
Und dann trat die große Stille ein.
Jacob brüllte nicht länger herum. Hatte man ihn überwältigt oder hatte der letzte Schuss ihm gegolten?
Von diesem Zeitpunkt an dauerte es noch ziemlich lange, bis ich es endlich wagte, aus dem Schrank zu klettern. Arme und Beine waren taub, ich konnte kaum laufen, stolperte mehr, als ich ging. Unter meinen Schuhen knirschten Glassplitter, als ich den Chemiesaal durchquerte und hinaus auf den Flur trat.
Das Erste, was ich sah, war ein
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