Das Erbe
Schüler, der regungslos neben dem Papierkorb vor dem Chemieraum lag.
Ich kannte ihn. Es war Justin Abraham aus meinem Jahrgang. Wir waren früher alle drei gut befreundet gewesen. Als wir noch zusammen Baseball gespielt hatten. Später hatte Jacob einmal gesagt hatte, Justin sei dümmer als der Ball unter seinen Händen. Damals hatte ich gelacht.
Jetzt kletterte ich einfach über ihn hinweg. Ignorierte die Blutspur, die sich von der Treppe bis zum Chemiesaal zog. Er war nicht gleich tot gewesen. Wie im Baseball hatte er bis zum letzten Moment um den Sieg gekämpft.
Ich dagegen hatte nicht gekämpft. Dabei hätte es außer Jacob noch einen weiteren Grund gegeben, den Schrank zu verlassen.
Vic.
Natürlich hatte ich die ganze Zeit verzweifelt an sie gedacht. Aber ehrlich, sobald ich verstanden hatte, dass es Jacob war, der um sich schoss, war ich mir sicher gewesen.
Er würde Vic nichts tun. Dennoch gab es für mich jetzt nichts Wichtigeres, als sie zu finden und sie in die Arme zu nehmen.
Im Erdgeschoss sah es aus wie nach einem Bombenangriff. Überall Einschusslöcher in den Wänden, Schmauchspuren und Dellen an den Spindfächern. Außerdem gab es schwarze Brandstellen an den Wänden und an der Decke. Später erst erfuhr ich von dem Sprengsatz, den Jacob gezündet hatte.
Polizeibeamte hielten jeden Schüler oder Lehrer an und stellten Fragen. Ob sie dem Täter begegnet seien, was genau dieser getan hätte, ob sie ihn erkannt hätten. Ich entkam dieser Befragung, indem ich mich in die Schlange vor der Sanitätsstelle stellte. Schnell begriff ich, es ging nicht nur darum, mögliche Verletzungen oder Schockzustände zu behandeln. Nein, sie suchten auch nach weiteren Waffen, waren sich offenbar nicht sicher, um wie viele Täter es sich handelte.
Natürlich hätte ich mich melden müssen. Ich kannte Jacob besser als jeder andere. Aber ich schwieg. Hielt einfach den Mund. Das war es auch, was mir später die Schwierigkeiten einbrachte.
Der Beamte, der mich durchsuchte, entschuldigte sich ständig. »Geht nicht anders. Du musst das verstehen. Wir müssen auf Nummer sicher gehen.«
»Kein Problem«, erwiderte ich.
»Trag deinen Namen, die Adresse und Telefonnummer in die Liste ein. Falls deine Eltern dort draußen warten oder anrufen, können wir sie schnell beruhigen, dass mit dir alles in Ordnung ist.«
»Ich habe ein Handy, ich habe sie schon angerufen«, log ich. Am allerwenigsten wollte ich, dass Mom hier auftauchte.
»Das ist gut. Sie werden froh sein, deine Stimme zu hören. Aber du kannst noch nicht gehen. Draußen ist ein Zelt aufgebaut, da bekommst du Tee und eine Decke. Sie haben dort Leute, die sich um euch kümmern.«
»Kann ich Sie etwas fragen?«
»Klar.« Er schien einer von den Netten zu sein. In Great Falls war normalerweise die Welt in Ordnung. Das, was heute hier passiert war, gehörte vermutlich zum Schlimmsten, was dieser Polizist je erlebt hatte. Aber es war nicht der erste Amoklauf in den USA. Wir alle wussten mehr oder weniger aus dem Fernsehen, wie so etwas lief. Und der Mann verhielt sich so, wie es im Drehbuch stand. Seine Stimme war verständnisvoll, mitfühlend, als er mich fragte: »Wie kann ich dir helfen, Junge?«
»Ihre Liste. Können Sie nachsehen, ob Sie dort eine Vic finden?«
»Vic? Ist das ihr richtiger Name?«
»Nein, Victoria. Victoria Banks.«
Er ging seine Liste durch. »Tut mir leid. Ich kann keine Victoria finden.« Und als er meinen panischen Blick sah, fügte er hinzu: »Aber das hat nichts zu bedeuten.«
»Wahrscheinlich.«
Ich wollte mich schon an ihm vorbei durch die Absperrung schieben, als er mir nachrief: »Und noch ein Tipp. Sieh dich nicht um. Sieh einfach auf den Rücken deines Vordermannes.«
Und genau das tat ich.
Ich sah mich nicht um, sondern schlich mich davon.
Überall waren Menschen. Eltern, Schüler, Lehrer, Sanitäter, Polizei. Die meisten weinten, viele lagen sich in den Armen. Einige waren völlig hysterisch.
Es berührte mich nicht. Klar, das war der Schock. Aber die Erinnerung daran, wie ich an dem Tag durch die Menge lief, wie in einem durchsichtigen Luftballon, als ob ich einfach davonschwebte – noch heute stellen sich mir die Nackenhaare auf. Aber in diesem Moment dachte ich nur an Vic.
Ich fragte jeden dasselbe: »Hat jemand Vic gesehen? Victoria Banks?«
Die Reaktion war immer gleich. Ausdruckslose Gesichter, die mich anstarrten. Wahrscheinlich hörten sie meine Frage nicht einmal. Überall begegnete ich nur einem
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