Das Erbe
entfuhr ihr, aber Rose sah, dass sie sich sofort auf die Lippe biss.
»Nicht kapiert, Ethan?« Tom hob eine Augenbraue. »Du hast gewonnen. Das große Los gezogen!«
Ethan rührte sich noch immer nicht.
»Beweg deinen Arsch, du Idiot.« Es war Chris, der Ethan aus der Reihe zog.
»Freunde«, erklärte Tom in seinem gehässig-boshaften Ton, der seinen Zynismus widerspiegelte, »auf die man sich verlassen kann, sind Gold wert.« Er sah wieder auf die Uhr. »Noch eine Minute.« Dann warf er einen Blick auf die Leiche von Mrs Hill. »Ach ja, El-Toro und du Glatzkopf«, er machte eine Kopfbewegung auf das Ende der Schlange, wo zwei Jungen standen, »ihr schafft mir gefälligst die Leiche vom Hals, bevor sie anfängt zu stinken.«
Die Panik in der Reihe der Studenten wurde förmlich greifbar. Während die beiden Jungen einen widerstrebenden Blick tauschten, aber dann doch in die Ecke gingen, wo Mrs Hill lag, drängten die anderen weiter nach vorne in Richtung Ausgang. Manche versuchten, sich aneinander vorbeizuschieben. Sie brannten darauf, das unvorstellbare Grauen hinter sich zu lassen, das sie in den letzten Stunden durchlebt hatten. Sie waren die Gewinner und machten keinen Hehl daraus.
Tom ließ sie gewähren. Er presste nur Julia noch fester an sich, bis er fast hinter ihr verschwand. Roses Mitbewohnerin hatte die Augen geschlossen und rührte sich nicht. Halt durch, Julia, wollte Rose ihr am liebsten zurufen. Du schaffst das. Du hast schon so viel geschafft, das hier überstehst du auch noch.
Die Sekunden verrannen quälend langsam. Eine Minute kann nicht so lange dauern, dachte Rose, die Zeit muss längst um sein. Und gerade, als sie glaubte, es nicht mehr aushalten zu können, ertönte ein hörbares Klicken. Die Polizei hatte die Verriegelung gelöst. Die Tür schwang auf und damit brach das Chaos aus.
Selbst wenn das Einsatzkommando direkt vor der Tür gestanden hätte, sie wären nicht zum Schuss gekommen. Denn die panischen Studenten, achtzehn an der Zahl, drängten alle auf einmal nach draußen, keiner nahm auf den anderen Rücksicht. Debbie war die erste, die es schaffte.
Und Rose begriff, dass Tom genau das geplant hatte. Er hatte die Reaktion der Studenten vorausgesehen, hatte sie mit seinem aufreizenden Spiel sogar regelrecht provoziert.
Woher weiß er das alles, dachte Rose, während sie nun auch die Augen schloss, um nicht mit ansehen zu müssen, wie die beiden Jungen mit verbissenen Mienen Mrs Hills Leiche aus dem Raum zerrten. Wer hat ihm beigebracht, so zu denken?
»Er wollte mich töten«, hörte Rose plötzlich, wie Debbie auf dem Flur losschrie. »Er wollte mich töten. Er hat die Waffe auf mich gerichtet. Und er hat Mrs Hill erschossen. Sie ist tot. Da ist überall Blut. Und die Prüfung. Sie wird doch nicht angerechnet, oder? Ich bin nicht fertig geworden. Ich habe doch noch gar nicht abgegeben.«
Rose holte tief Luft.
Ein Stück Normalität in dem ganzen Wahnsinn.
19. Im Zeichen des Quadrats
Am Ende wird alles gut, und wenn es nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende. Ich glaube, dieses Zitat stammt von Oscar Wilde, der sowieso die besten Sprüche hatte.
Die Studenten, die ins Erdgeschoss strömten, hatten das Ziel erreicht. Für sie gab es ein Happy End.
Das Sondereinsatzkommando war den Anweisungen von Tom gefolgt. Die Beamten standen an der Treppe, die Waffen im Anschlag, und nahmen die Ankommenden in Empfang. Robert und ich hatten uns links von der Tür postiert und waren bereit, den Raum zu betreten. Das Adrenalin in meinem Körper hatte das absolute Limit erreicht.
»Raus, raus, raus.« Ich hörte ihr Brüllen, aber ich sah mich nicht zu ihnen um.
Ein schleifendes Geräusch vermischte sich mit den Schritten der Flüchtenden und wenige Minuten später wurde Mrs Hills Leiche an mir vorbeigezogen.
Niemand hatte ihr die Augen geschlossen. Der Mund stand offen. Und ihr Gesicht zeigte bereits die Farbe des Todes. Dieses gelbliche kalte Weiß, wenn das Herz aufgehört hatte zu schlagen und kein Sauerstoff mehr durch den Körper gepumpt wurde. Ich blickte in ein Geistergesicht.
Wo war Isabel?
Sie kam als eine der Letzten. Ich kannte diese gebeugte Körperhaltung. Diese Mischung aus Unterwürfigkeit, Zerstörung und Panik. Sie war nicht tot, aber ihr Leben war ruiniert. Es war genau das, was passierte, wenn Gewalt die Macht übernahm. Und ich fürchtete mich vor dem, was mich erwartete.
Dann war der Weg frei. Ich tauschte mit Robert einen Blick und dann schritten wir
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