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Das Erlkönig-Manöver

Das Erlkönig-Manöver

Titel: Das Erlkönig-Manöver Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Löhr
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seiner Familie eine andere. Daher nahmen sie unter dem Fenster Aufstellung, um den Delinquenten bei seiner Rückkehr dingfest zu machen. Als dieser aber wieder am Fenster erschien, ein ledernes Portefeuille unter dem Arm, wurde er des Empfangskomitees in der Straße gewahr, und anstatt abwärts zu klettern, stieg er vom Fenster aufs Dach und entfloh mit seiner Beute über die Dächer der benachbarten Häuser. So leicht wollten sich die Bauern jedoch nicht geschlagen geben: Sie folgten dem Dieb durch die Gassen und suchten ihre Überzahl zu nutzen, um ihm den Weg abzuschneiden. Beim Graben kam er von den Dächern herab, aber auf der Straße nach Berka konnte er seine Verfolger endgültig abschütteln, denn hier wartete, an einen Baum gebunden, sein Pferd und trug ihn davon. Die Bauern waren durch diese Ertüchtigung und die frische Nachtluft so ernüchtert, dass sie von ihrem ursprünglichen Plan Abstand nahmen und stattdessen in ihr Dorf heimkehrten. Erst diesen Mittag hatten sie von einem Durchreisenden erfahren, dass Schiller am Tag darauf verstorben war, und dieses Wissen warf ein anderes Licht auf ihre rätselhafte nächtliche Begegnung.
    Goethes Mattigkeit war im Laufe der Erzählung vergangen, und die Frage, die ihm am brennendsten auf dem Herzen lag, war die nach dem Aussehen des nächtlichen Besuchers. Die Oßmannstedter trugen nun zusammen, was sich ihnen von dem Mann ins Gedächtnis eingeprägt hatte, und einander unterbrechend und ergänzend, vertrauten sie Goethe ihr Wissen an – aber Goethe hatte bereits beim ersten Satz begriffen, wer der Gesuchte war: »Er trug eine Klappe über dem rechten Auge.«
    »Meine hochverehrten Herren«, sagte Goethe, als sie geendet hatten, »Sie taten gut daran, zu mir zu kommen, und ich schulde Ihnen mehr Dank, als Sie ermessen können. Meine besten Wünsche begleiten Sie auf Ihrem Heimweg, und seien Sie versichert, dass ich, wenn ich gewisse Aufgaben erledigt weiß, einmal mehr nach Oßmannstedt kommen werde, um mich freiwillig vor Ihnen aufzustellen, damit Sie mir so viele Maulschellen verpassen, wie Sie als Vergeltung für angemessen halten, zumindest aber, um Sie einen Abend lang auf meine Kosten zu bewirten.« Dieses Angebot wurde von den Landmännern angenommen, und per Handschlag verabschiedete sich Goethe von jedem Einzelnen.
    Wieder im eigenen Hause, wies er Carl an, ihm ein Pferd zu besorgen und zu satteln und den Proviant nicht zu vergessen. Er musste die Anweisung erst wiederholen, ehe Carl, der seinem kranken Herrn noch am Vortag die Bouillon ans Bett gebracht hatte, auch spurte. In seinem Arbeitszimmer holte Goethe alle Pistolen hervor, die er noch besaß, und legte sie auf den Tisch. Eine nach der anderen prüfte er auf ihren Mechanismus und sortierte die schadhaften aus, bis drei einwandfrei funktionierende übrigblie ben. Eigentlich hätte eine Pistole gereicht, denn es war nur eine Kugel, die er auf das Herz eines Mannes abfeuern musste, aber die Mainzer Episode hatte ihm bewiesen, dass das Schießen nun wirklich nicht zu seinen Stärken zählte. Dazu nahm er den französischen Säbel, der das letzte Abenteuer bis auf einige Scharten heil überstanden hatte.
    Dann suchte er seinen Sohn auf und bat ihn in einer Rede von Mann zu Mann, er möge auf seine Mutter achtgeben, sollte Goethe irgendetwas zustoßen. Den Jungen verwirrte diese Bitte, und er wusste nicht, wie er sie in Verbindung zum plötzlichen Tode Schillers bringen sollte.
    Goethes schwerster Gang war aber der zu Christiane, die er in ihrer Stube beim Verfassen eines Briefes antraf. »Ich muss noch einmal fort, noch in dieser Stunde«, sag te er. »Aber diesmal wird es nur eine kurze Reise.«
    Christiane sah ihn entgeistert an. »Undenkbar. Sie können nicht reiten. Sie sind krank.«
    »Es ist eine andere Krankheit als die, unter der ich gestern noch litt. Die alte fiel von mir ab, als ich von Schillers Ende hörte. Und gegen die neue gibt es ein Mit tel.«
    »Und seine Beerdigung?«
    »Ich ehre sein Andenken mehr, wenn ich herausfinde, was man Schillern angetan hat, als wenn ich eine Handvoll Erde auf seinen Sarg werfe. Er hatte in der Nacht vor seinem Tode unerwünschten Besuch. Und diesen werde ich finden und zur Rede stellen.«
    Von dieser Kunde verblüfft, brauchte Christiane einen Moment, wieder zu Worten zu finden. »Bitten Sie Carl August, er möge Männer schicken.«
    »Lass mich allein und unbegleitet gehen. Der Starke ist am mächtigsten allein.«
    »Ich lasse Sie gehen«, sagte sie,

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