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Das Erlkönig-Manöver

Das Erlkönig-Manöver

Titel: Das Erlkönig-Manöver Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Löhr
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sich, derweil sein Ross versorgt wurde. Auch die Wirtin wusste nichts von einem Einäugigen zu berichten. Während Goethe eine Gänsekeule samt Klößen in brauner Sauce verzehrte, überkam ihn das Verlangen, sich zu betrinken, wie er sich das letzte Mal im Spessart betrunken hatte. Nur würde dieser Rausch nicht in Frohmut, sondern in Schwermut enden. In dieser Nacht sollte in Weimar sein Freund beerdigt werden. Als die Wirtin Goethe den zweiten Schoppen brachte, bestellte er bereits den dritten. Er hob das Glas und prostete seinem Spiegelbild im Fenster zu, vor dem er saß: »Auf dein Wohl, Friedrich. Was dir das Leben nur halb erteilt hat, soll dir die Nachwelt ganz erteilen.«
    Nun war kein Halten mehr: Noch bevor der Becher auf Schillers Wohl ganz geleert war, schossen Goethe die Tränen in die Augen, und er begann stumm zu weinen. Schamhaft bedeckte er sein Antlitz mit beiden Händen, in der Hoffnung, die anderen Gäste des Wirtshauses würden nicht auf den weinenden einsamen Mann aufmerksam. Die Tränen rannen ihm an seinen Händen in die Ärmel. Einige fielen auf den Teller vor ihm, zerplatzten auf dem Gänseknochen und malten Muster in die Reste der Sauce. Erstmals fühlte er sich so alt, wie er war, ein Greis von fünfundfünfzig Jahren. Die Freundschaft mit Schiller hatte ihm eine zweite Jugend verschafft, eine Jugend, die zwangsläufig mit Schillers Tod enden musste. Der Jungbrunnen war versiegt. Bald konn te Goethe nicht einmal mehr ermessen, ob es Schiller war, den er beweinte – oder seine eigene verlorene Jugend.
    Die diskrete Gastwirtin wartete, bis Goethes Tränen versiegt waren und mittels der Serviette getrocknet, und sprach ihn dann an. Sie störe Monsieur nur ungern, aber eine ihrer Mägde habe heute in einem Dorf unweit von Hildburghausen einen Mann gesehen, der wie der von Goethe beschriebene eine schwarze Klappe über dem rechten Auge trug, und eventuell wünsche Monsieur, ein Wort mit dem Mädchen zu wechseln.
    Goethe war augenblicklich in der Küche, wo die Jungfer einige Kohlhäupter zerschnitt, und fragte sie aus. Das Mädchen war gerade vom Eierkauf in einem Weiler im Süden der Stadt gekommen, als der einäugige Reiter mit dem grimmigen Antlitz an ihr vorübergeritten war. Sie hatte ihm nachgesehen, bis er die Straße verlassen hatte und auf einem kleinen Weg im Wald verschwunden war. Mehr wusste sie nicht zu berichten, aber sie beschrieb Goethe den Weg in das Dorf und den Abzweig in den Wald. Goethe wies die Wirtin an, man möge sein Pferd, das bereits abgerieben und zugedeckt worden war, abermals satteln, und drückte sowohl ihr als auch der Magd zum Dank einige Groschen in die Hand.
    Es dunkelte bereits, als Goethes Ross ihn im Trab bergan in die Hügel hinter Hildburghausen trug. Nach einer halben Stunde war der Bergrücken erreicht, und die Landstraße führte steil ab ins Tal der Rodach. Unten sah er bereits die Lichter von Eishausen, denn so hieß das Dorf – eine lange Reihe niedriger schiefergedeckter Häuser zwischen Straße und Bach. Goethe fand den beschriebenen Pfad in den Wald hinein, saß ab und folgte ihm, das Pferd an den Zügeln führend. Da die Sonne zwar längst unter-, der Mond aber nicht noch aufgegangen war, hatte er seine Mühe, sicheren Fußes durch den Wald zu kommen, und sein Ross, das diese Unsicherheit spürte, begann zu schnauben und zu wiehern. Goethe fühlte sich schließlich gemüßigt, die Zügel an einen Lindenbaum zu binden und allein weiterzugehen, um sein Kommen nicht zu verraten. Von seiner Habe nahm er nur den Säbel, die Pistolen und einige Patronen mit, denn er spürte, dass er sein Ziel bald erreicht hatte.
    Als sich der Wald wieder öffnete, fand er sich vis-à- vis eines Schlosses wieder oder vielmehr eines herrschaftlichen Hauses, das hier, fernab der Stadt am Waldessaum, seltsam deplatziert wirkte, als hätte es die Hand eines Riesen aus einer Residenz herausgerissen und auf dem Lande wieder abgesetzt. Dieser Herrensitz nun war ein massiver Kasten von drei Stockwerken mit neun Fenstern in jedem Geschoss, von frappierender Schmucklosigkeit, denn sein Zierwerk beschränkte sich in der Tat auf kunstvoll geschmiedete Wasserspeier an den Traufen, ein Spalier mit Weinlaub an den Mauern und eine doppelte Freitreppe, die hinauf zum Entrée führte. Ein Gutshaus und ein Stall lagen nahe dem Gebäude, und auf seiner Rückseite schloss eine hohe Mauer an, die zweifellos einen Garten eingrenzte. Der Pfad, dem Goethe gefolgt war, mündete in eine

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