Das Erlkönig-Manöver
Apfel –, dann die des zweiten Tisches im Raum und schließlich das Bücherregal. Er entschied, Voß danach zu fragen. Bevor er das Bureau verließ, wollte er den Fensterladen wieder verriegeln, doch das Schloss war schadhaft, und einer der beiden Läden fiel immer wieder zur Seite.
Auf Schillers letztes Werk angesprochen, versicherte Voß, beim Aufräumen der Unterlagen des Verstorbenen nach den Versen Ausschau zu halten und sie Goethe, das Einverständnis der Witwe vorausgesetzt, zukommen zu lassen. Goethe im Gegenzug diente der Familie seines Freundes jede menschenmögliche Unterstützung an.
Als Goethe wieder auf die Esplanade trat, war es dunkler geworden. Zeus hatte seinen Himmel bedeckt. Goethe war es, als wäre der Himmel mit einem schwarzen Flor überzogen und hinge so tief herunter, dass man sich bücken müsse, um nicht dran zu stoßen. Auf dem Weg heim hielt er den Kopf gebeugt und den Blick auf seine Füße gerichtet, die wie die eines alten Mannes mit kleinen Schritten über das Pflaster schlurften. Die Hälfte seines Körpers fühlte sich an wie gelähmt. Er wünschte, er hätte einen Stock mitgenommen, um sich darauf zu stützen, aber noch mehr wünschte er, er hätte sich an Ort und Stelle fallen lassen können; einfach zu Boden gleiten und dort liegen bleiben, den Kopf auf einen Arm gelegt, von den Passanten unbeachtet, in dieser wundervollen Luft.
Erst am Frauenplan hob er den Kopf wieder, und so sah er, dass vor der Tür seines Hauses vier Herren in einfachen Röcken standen. Als Goethe zu ihnen trat, erkannte er die Männer: Es waren die Bauern aus der Oßmannstedter Schenke, mit denen sich Schiller und er bis aufs Blut geprügelt hatten und deren Vergeltung sie mittels Flucht über den zugefrorenen Ilmfluss entkommen waren.
»Sie erinnern sich unsrer, Herr Geheimrat?«, fragte der Kräftigste der vier, der zugleich der Wortführer war.
Goethe nickte müde. »Das tue ich wohl, meine Herren. Nur haben Sie für Ihre Rache die ungünstigste aller Stunden gewählt. Aber bitte sehr: Gerben Sie mir das Fell, ich werde mich nicht zur Wehr setzen. Ich bezweif le aber, dass Sie meinen Schmerz noch steigern werden.«
Der Mann beeilte sich nun, seine Mütze abzunehmen, und die anderen folgten seinem Beispiel. »Wir haben davon erfahren, Herr Geheimrat«, sagte er mit zerknirschter Miene und walkte dabei die Kappe in den Händen. »Deshalb sind wir hier. Nun, ehrlich gesprochen, waren wir schon vorgestern in der Stadt, mehrerlei Saatgut erwerben, und wollten bei dieser Gelegenheit tatsächlich Ihnen und Ihrem Freund, nun, die Münzen heimzahlen, die Sie uns damals ausgeteilt haben, aber der, nun, der Unglücksfall hat dieses Vorhaben letztendlich zunichtegemacht. Sie haben also vor uns nichts mehr zu befürchten.«
»Ich staune. Dann sind Sie hier, um mir Ihr Beileid auszusprechen?«
»Nun, vielleicht auch, aber nicht maßgeblich. Es hat sich in der Nacht vor dem Tode des Herrn von Schiller etwas, nun, zugetragen , das jemand erfahren sollte, und deshalb sind wir abermals in die Stadt gekommen, denn außer Ihnen, Herr Geheimrat, fiele uns niemand ein, dem wir dieses sich Zugetragenhabende berichten könnten.«
»Wie meinen?«
Die Oßmannstedter referierten nun, wie sie am Abend des 8. Mai, nachdem sie im Schwarzen Bären etliche Schoppen Bier getrunken hatten, sich des Händels mit den Weimarern erinnert und kurzerhand beschlossen hat ten, vor ihrer Rückfahrt der leichtfertigen Einladung Goethes zu folgen, um sich an den beiden zu rächen. Schiller sollte, da sein Haus näher lag, der erste Adressat ihrer Prügel sein, aber vor seinem Haus waren die Bauern uneins darüber, wie man vorgehen sollte: Denn wenn nicht Schiller die Tür öffnete, sondern ein Diener, sollte man nach dem Hausherrn schicken lassen? Und was, wenn er bereits zu Bett gegangen war – denn es ging schon gegen Mitternacht, und die ganze Stadt schlief –, würde man ihm die Abreibung dann im Nachthemde verpassen? Noch während die vier Trunkenen im Dunkel einer Seitengasse flüsternd darüber diskutierten, erspähte der Jüngste einen Schatten, der an der nackten Fassade des Schiller’schen Wohnhauses emporkletterte. Die Oßmannstedter betrachteten mit angehaltenem Atem, wie der Kletterer mit großem Geschick den Laden des Mansardenfensters aufbrach und wenig später im Innern verschwunden war. Nun wurde es dem Quartett aber doch zu bunt: Ein herzhafter Faustschlag in Schillers Visage war eine Sache, der Einbruch ins Haus
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