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Das Erlkönig-Manöver

Das Erlkönig-Manöver

Titel: Das Erlkönig-Manöver Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Löhr
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von dem plötzlichen Todesfall erfahren hatte, aber Goethe hörte ihre Stimme nur von Ferne, als befände sie sich drei Zimmer weiter.
    Eine Stunde später hatte er sich rasiert und angekleidet und begab sich in die Esplanade. Der Großteil von Weimar wusste offensichtlich noch nicht, dass es einen seiner größten Bürger verloren hatte, und der Anblick der spielenden Kinder und der schwatzenden Marktfrauen unter der Maiensonne war Goethe regelrecht zuwider. Er wünschte sich den Bart und die Lumpen zurück, um unerkannt durch die Gassen zu Schillers zu kommen.
    Er fand die Bewohner des Hauses wie betäubt vor. Die drei Kinder saßen eng beieinander in der Stube, zum Spiele unfähig, und betrachteten die Erwachsenen um sie herum stumm und mit großen Augen, als trügen sie die Schuld an der Trauerstimmung. Selbst der Säugling schwieg. Die Diener suchten ihr Heil in nutzlosen Aufgaben. Charlotte von Schiller nahm Goethes Kondolenz geradezu teilnahmslos entgegen, und ihre Schwester Karoline fühlte sich sogar noch verpflichtet, das wortkarge Betragen ihrer Schwester zu entschuldigen, während sie zitternd seine Hand hielt. Einzig Voß, der Lehrer der Kinder, hatte seine Sinne beisammen. Im Flur zur Küche berichtete er Goethe in gedämpftem Ton von den letzten Tagen Schillers, von der plötzlichen und heftigen Schwindsucht, die sich in Atemnot, Fieber und zeitweisen Absencen manifestierte, von der niederschmetternden Diagnose Doktor Huschkes und von Schillers letzten Stunden, in denen er zuletzt verlangt habe, man möge ihn mit romantischen Geschichten unterhalten – bis am frühen Abend starb, was an Friedrich von Schiller sterblich gewesen. Voß bot Goethe an, ihn ins Sterbezimmer zu führen, und zögernd nahm dieser an. In Begleitung Ge orgs des Dieners gingen sie ins oberste Geschoss in Schillers Studierzimmer.
    Da man den Leichnam bereits fortgebracht hatte, war der Raum leer. Voß und Georg bewegten sich leise durch das Zimmer, als liefen sie Gefahr, jemanden zu wecken. Nur einer der Fensterläden war geöffnet, und das Halbdunkel und der Geruch von Krankheit, Angst und Tod schwächten Goethe so sehr, dass er sich am Türrahmen festhalten musste, um nicht niederzusinken.
    »Macht doch den zweiten Fensterladen auf, damit mehr Licht hereinkommt«, bat Goethe.
    Erst als der Laden geöffnet war und die Mittagssonne die Schatten vertrieben hatte, trat auch er in den Raum. Seine Blicke mieden das Bett, in dem Schiller seine Seele ausgehaucht hatte. Stattdessen musterte er die Karten des Ostens, die rund um den Schreibtisch an den grünen Tapeten hingen, die Kupferstiche von Zaren, Bischöfen und Patriarchen, von Offizieren und Soldaten des alten Russland, dazu eine Zeichnung des Kreml und ein Plan von Moskau.
    »Sie haben alle Zeit«, sprach Voß und bedeutete dem Diener, mit ihm den Raum zu verlassen. Die Tür schlos sen sie hinter sich.
    Ein Schauer befiel Goethe, denn er wollte nicht mit dem Geist seines Freundes allein gelassen sein, doch sei ne Umgebung war alles andere als gespenstisch, und so wurde er wieder ruhig. Er zog den Stuhl heran und nahm am Schreibtisch Platz, selbst wenn das bedeutete, das Sterbebett in seinem Rücken zu wissen. Links vom ihm stand ein kleiner Globus; auch dieser hatte dem Betrach ter Russland zugewandt. Einige Geschichtsbücher lehnten an der Weltkugel. Zwischen zwei Leuchtern tickte eine Uhr heiter vor sich hin, bis Goethe sie anhielt. Nebst einigen Federkielen, einer Streusandbüchse, einem Löscher und einem Fässchen Tinte war der Tisch von eng beschriebenen Papieren bedeckt. Goethes Augen wanderten über die Aufzeichnungen zu Schillers neuestem Drama, blieben hier an einer fremdartigen Formulierung hängen, erfreuten sich dort an einer geglückten Sentenz. Mit Vorliebe las er jene Passagen, die Schiller durchstrichen, geschwärzt und kommentiert hatte. Zwischendurch ertappte er sich bei dem Wunsch, sein Freund möge ins Zimmer treten und unter dem Gelächter seiner Familie den Todesfall als gelungenen Streich bezeichnen.
    Die Hälfte einer Stunde verging derart, bis sich Goethe erstmals fragte, wo sich das Zarendrama selbst befand. Denn aus den verstreuten Aufzeichnungen war deutlich zu ersehen, dass Schiller längst mit der Niederschrift begonnen hatte, ja, vielleicht kurz davor gewesen war, das Manuskript abzuschließen – und dennoch waren nirgends Verse zu sehen. Ohne Erlaubnis durchsah Goethe erst die Schublade des Schreibtisches – fand darin aber nur einen fauligen

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