Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Erlkönig-Manöver

Das Erlkönig-Manöver

Titel: Das Erlkönig-Manöver Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Löhr
Vom Netzwerk:
»aber nur, wenn Sie mir versprechen, dass Sie wohlbehalten heimkehren.«
    »Das kann ich nicht versprechen.«
    »Sie haben es bei Ihrem letzten Abschied auch getan und Ihr Versprechen gehalten.«
    Darauf wusste Goethe nichts zu erwidern. Er schwieg und blickte hinaus in den Garten.
    »Wohin geht es?«, fragte sie schließlich, um sein Schweigen zu brechen.
    »Südwärts. Nach Baiern, vermute ich.«
    »So gehen Sie – in Gottes Namen gehen Sie, und mit Gottes Hilfe kehren Sie zu mir zurück.«
    Goethe nahm ihre Hand in beide Hände und küsste sie dankbar. »Eines noch, mein holdes Angesicht«, sagte er, »eines noch, bevor ich gehe, denn ich möchte diese Last nicht mit auf die Reise nehmen. Seit du die Mutter meines Kindes bist, Christiane … ist mein Herz mitunter abtrünnig gewesen.«
    »Wovon sprechen Sie?«
    »Dass ich dir, so leid es mir später tat, nicht immer ganz ergeben war. Dass ich anderen Frauen erlaubt habe, sich in meine Brust zu drängen. Dass ich immer einen starken Kopf, aber manchmal ein schwaches Herz hatte.«
    Sie legte ihre zweite Hand auf die seine und lächelte. »Bagatellen. Sie sind zu groß für mich allein, und Ihr Herz ist es vielleicht auch. Solange darin immer ein Eckchen für mich frei bleibt, soll mir das andere gleich sein.«
    Als sie ihn ansah, war es Goethe, als stünde er in der warmen Frühlingssonne. »Du bist die Große von uns bei den«, flüsterte er bewegt. »Küss mich! Sonst küss ich dich!« Hierauf führte er seine Lippen auf die ihren, und sie erwiderte den Kuss mit solcher Hingabe, als gälte es, Goethe durch diesen einen Kuss für immer an sich zu binden; ein Pfand für seine sichere Rückkehr. So eilig er es mit seinem Aufbruch gehabt hatte, vermochte er nicht, sich aus dieser Umarmung zu lösen, und er küsste ihr ganzes Antlitz und ihren Hals, und ehe er sich versah, hatte sie ihm aus dem Überrock geholfen, das Tuch um ihre Schultern zu Boden gleiten lassen und mit vielen Küssen und wenigen Worten den Weg voran ins Schlafgemach geführt. Als die Tür geschlossen war, schlüpfte sie aus ihren Schuhen, setzte sich aufs Bett nieder und bedeutete ihm, sich zu ihr zu gesellen. Halb zog sie ihn, halb sank er hin, und derart wurde sein Abschied noch um die inniglichste aller halben Stunden hinausgezögert .

12
    EISHAUSEN

    Goethe sprengte gen Berka, als würde der Boden unter seinen Füßen glühen. Jeden Wanderer, der ihm entgegenkam, jeden Landmann am Wegesrand und jeden Herbergsvater befragte er nach Capitaine Santing. Oft bekam er nur ein Schulterzucken zur Antwort, doch hinreichend vielen Menschen war am Tag zuvor der Reiter mit der Augenklappe auf seinem Ritt nach Süden aufgefallen. In der Annahme, der Ingolstädter wäre auf dem Weg nach Baiern, wählte Goethe in Berka die Rudolstädter Chaussee und musste, als auch der fünfte Angesprochene von keinem Einäugigen wusste, umkehren und den Abzweig nach Ilmenau wählen. In Kranichfeld nahm er Quartier, der Dunkelheit und seinem geschwächten Körper geschuldet, und stieg am Morgen noch vor Auroras erstem Sonnenstrahl müde wieder in den Sattel.
    Je tiefer Goethe in die Hänge des Thüringer Waldes vorstieß, desto frischer wurde Santings Spur. Goethe war blind für das Schauspiel der grünenden Wälder und dankbar um jedes unbesetzte Zollhäuschen und um jeden Schlagbaum, der offenstand, denn auf seinem Parforceritt wechselte er unzählige Male die Territorien, von einem Thüringer Zwergfürstentum ins nächste; von Sachsen-Weimar-Eisenach nach Sachsen-Gotha-Altenburg, zurück durch Sachsen-Weimar-Eisenach, erneut durch Sachsen-Gotha-Altenburg nach Schwarzburg-Rudolstadt, ein drittes Mal über Sachsen-Weimar-Eisenacher Erde weiter nach Sachsen und schließlich nach Sachsen-Hildburghausen.
    Als er im Licht der Abendsonne ins Werratal hinabritt, kam ihm zum ersten Mal der Gedanke, Santing wisse, dass man ihn verfolgte, und halte seinen Verfolger mit diesem Ritt kreuz und quer durch Thüringen zum Narren. In Hildburghausen geschah es, dass Goethe die Spur verlor. Es schien, als hätte der Capitaine die Stadt nie betreten, und selbst wenn – Hildburghausen war die Kreuzung großer Chausseen, und wer konnte sagen, ob er von hier nach Meiningen, nach Römhild, nach Coburg oder nach Eisfeld weitergeritten war? Goethe zerrann der Mut. Er begriff erst jetzt, wie bemerkenswert es war, dass er die Fährte des Capitaines nicht schon viel früher verloren hatte.
    Im Englischen Hof am Markt nahm Goethe eine Mahlzeit zu

Weitere Kostenlose Bücher