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Das Erlkönig-Manöver

Das Erlkönig-Manöver

Titel: Das Erlkönig-Manöver Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Löhr
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Allee von Kastanien, die hier zum Herrenhaus führte und dort durch ein eisernes Tor und über einen Graben zurück zur Poststraße nach Coburg. Das Tor war verschlossen. In der oberen und unteren Etage des Hauses brannte kein Licht, und die Fensterläden waren geschlossen, dazwischen aber waren vier Fenster hell, drei im linken und eines im rechten Flügel.
    Goethe zog sich zurück in den Schutz der Bäume, leg te dort seinen Mantel ab und lud die drei Pistolen. Zwei steckte er, den Lauf voran, in seinen Gürtel, die dritte nahm er in die Hand. Dann brach er auf. Im Schatten des Gutshauses näherte er sich dem Schloss und umrundete es halb, bis er auf der schmalen Ostseite die Tür zu den Wirtschaftsräumen fand. Sie war verschlossen. Durch das Schlüsselloch beschaute er den Raum dahinter, offensichtlich eine Speisekammer, und die benachbarte Küche, in der ein einziges Wachslicht brannte. Die Tür war nicht zugeschlossen, sondern vielmehr mit einem Querbalken von innen verriegelt. Sie war aus massiven Eichenbrettern gezimmert, die sich im Laufe der Jahre aber so verzogen hatten, dass dazwischen kleine Spalten of fenlagen. In eine dieser Spalten führte Goethe die Klinge seines Säbels, und mit großer Anstrengung zwängte er die Waffe tief in die Tür hinein. Als dies getan war, drückte er den Säbel am Griff aufwärts, sodass die Klin ge bald auf der anderen Seite der Tür den Balken aus der Fassung hob und er schließlich dumpf auf die Fliesen polterte. Nun musste Goethe den Säbel schnell wieder aus der Umklammerung befreien. Es gelang, indem er beide Füße gegen die Tür stemmte, und kostete ihn, geschwächt wie er war, viel Schweiß. Erneut äugte er durch das Schlüsselloch, doch das Geräusch des herabfallenden Balkens, das ihm so laut erschienen war, hatte im zwei ten Geschoss offensichtlich niemand vernommen. Goethe trat ein und verriegelte die Tür wieder.
    Noch während er die Speisekammer und die große Küche erkundete, hörte er Schritte auf der Wendeltreppe, die herab zur Küche führte, und sah einen nahenden Lichtschein. Goethe griff zum ersten Gegenstand, der ihm im Schein der Kerze ins Auge fiel – ein Teigholz –, und versteckte sich damit hinter einem Schrank. Aus dem Dienstbotenaufgang trat nun ein Lakai. Er trug ein Tablett mit einem benutzten Teeservice und einem Kerzen leuchter. Der Mann hatte volles weißes Haar und beweg te sich geradezu mit französischer Eleganz. Goethe wartete, bis er das Tablett mit dem kostbaren Porzellan sicher abgestellt hatte, und zog ihm dann die Holzrolle über den Hinterkopf. Der Körper sank so langsam nieder, dass Goethe seinen Fall sogar noch bremsen konnte.
    Über die Wendeltreppe gelangte Goethe ins zweite Stockwerk. Vor der Tapetentür, die zweifelsohne auf den Flur führte, setzte er den mitgenommenen Kerzenleuchter ab und nahm in jede Hand ein Terzerol. Kalter Schweiß lag in seinen Handflächen. Er atmete einmal tief durch und drückte die Tür mit dem Rücken auf. Mit einem Satz war er im Raum dahinter – einem mit zahlreichen Spiegeln geschmückten leeren Flur, von dem auf jeder Seite zwei Türen abgingen. Hinter der Tür linker Hand sprach ein Mann. Über den Teppich schlich sich Goethe heran und legte ein Ohr an die Tür. Er versuchte die Stimme Santings auszumachen, aber es gelang ihm nicht. Ihm blieb keine andere Wahl, als die Tür zu öffnen. Er drückte die Klinke, schlug den Türflügel auf, trat ein und zielte mit beiden Läufen in den Raum.
    Es war ein Salon; einfach, aber durchaus stilvoll eingerichtet, mit einem Klavier und einer Gruppe von Möbeln um einen Kamin. An einem Tisch auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes saßen Sophie Botta und Graf Vavel de Versay, jeder einige Spielkarten in der Hand, und wie es den Anschein hatte, legten sie gerade Patiencen. De Versay trug wie immer seine Perücke und einen kastanienbraunen Rock mit großen Metallknöpfen. Madame Botta trug erstmals kein schwarzes, sondern ein weißes Kleid mit eingestickten Lilien, und der Schleier, der immer ihr Gesicht bedeckt hatte, war abgesetzt und hing lose um ihren Hals. Goethe war darüber, ausgerechnet diese beiden hier anzutreffen, so verblüfft, dass er nicht einmal daran dachte, die Pistolen zu senken. Auch den anderen beiden hatte es die Sprache verschlagen, und so starrten sich die drei unbewegt an wie Schauspieler, denen das Stichwort entfallen ist und die vergebens auf die Hilfe eines Souffleurs warten.
    »Sie hier?«, fragte schließlich der

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