Das Erlkönig-Manöver
Dichtung und Wahrheit nicht vermischt.«
»Nicht? Und das sagt ausgerechnet der Schöpfer der Natürlichen Tochter und des Groß-Cophta ? Der leibhaftige Werther ?«
»Herrgott, ich beschwöre Sie: Sie bringen die Nachwelt um das letzte Werk des größten deutschen Dramatikers.«
»Ich bin mir sicher, die Nachwelt hat mehr Nutzen da von, wenn es unveröffentlicht bleibt. Ich bedauere, aber Sie werden mich von meiner Haltung nicht abbrin gen können.«
»Und sein Tod?«
Santing lachte unvermittelt auf und erklärte dann: »Sie täuschen sich immens, wenn Sie denken, das wäre mein Werk gewesen. Das war der Herrgott allein. – Obwohl ich gestehe, dass es mich in den Fingern juckte, es zu tun, wie er so wehrlos-arglos vor mir lag.« Hierbei berührte er seine Augenklappe.
»Monsieur Santing hatte ausdrückliche Order, nur das Werk zu entwenden«, sagte die Französin.
Santing berichtete, dass Schiller in der Nacht vor seinem Todestag tief und fest schlief – das letzte Mal vor dem tiefsten aller Schlafe – und nicht einmal durch den Einbrecher geweckt wurde, der das Fenster aufbrach, die Papiere auf dem Schreibtisch durchsuchte und das Drama entwendete. Dann gratulierte Santing Goethe zu der Leistung, ihn durch den gesamten Thüringer Wald bis hierher verfolgt zu haben. »Aber seien Sie über den Tod Ihres Kollegen getröstet: Jetzt, da er tot ist, wird er Ihren Ruhm nicht mehr übertreffen. Denn das hätte er zweifellos getan.«
Goethe sprang auf, um dem feixenden Soldaten für dieses Lästerwort an den Kragen zu gehen, aber Santings Pistole zwang ihn zurück in den Sessel. Er trank einen Schluck Kaffee, um sich zu beruhigen.
»Wie soll es nun weitergehen, Herr von Goethe?«, fragte Madame Botta.
»Sie händigen mir das Manuskript aus und lassen mich ziehen.«
»Ausgeschlossen.«
»Dann wird es Sie teuer zu stehen kommen. Carl August weiß, wo ich bin. Und schon morgen sind seine Männer hier.«
»Wenn Sie selbst nicht wussten, wohin Sie ritten«, konterte de Versay, »wie sollte es dann Ihr Herzog wissen?«
Als ihm Goethe die Antwort darauf schuldig blieb, sagte Santing: »Diese Ihre dürftige Finte wollte schon damals nicht funktionieren.«
»Es ist spät geworden«, meinte die Französin und erhob sich. »Ziehen wir uns zurück, und entscheiden wir morgen über die Zukunft. Nur dieses eine noch: Es ist nicht gut für Sie, dass Sie nun mein Gesicht kennen.«
»Ich kenne Ihr Gesicht, aber was soll es mir sagen? Es ist das Antlitz einer Frau, die offensichtlich nur hinter der Larve eines Schleiers zu Schandtaten fähig ist.«
Santing und der zweite Diener brachten Goethe in ein kleines Schlafgemach im obersten Stockwerk, dessen Fenster vergittert war. Die Tür wurde hinter ihm abgeschlossen, und der bewaffnete Diener setzte sich zur Bewachung auf einen Stuhl in den Flur. Goethe vergeudete keine Zeit, eine Fluchtmöglichkeit zu ersinnen. Er entledigte sich seines Überrocks und ließ sich ins Bett fallen, und noch vor allen anderen Bewohnern des Eishausener Schlosses war er in einen tiefen, traumlosen Schlaf gefallen.
Das Hoffnungslose kündigt sich schnell an. Am nächsten Morgen wurde Goethe in einen Speisesaal gebracht, um in der Gesellschaft der Madame, des Grafen und des gewesenen Capitaines zu frühstücken. Als die Köchin die Speisen abgeräumt hatte, eröffnete ihm Sophie Botta, dass ihr über Nacht getroffenes Urteil vorsah, Goethe müsse aus dem Leben scheiden. Zu groß war die Gefahr, dass er sie verraten würde, dass er ihr Versteck in Eishausen verraten würde, dass er vor allem aber den Dauphin verraten würde. Sie bedauere diesen harten Bescheid zutiefst, sagte Madame Botta, sehe aber im Interesse der Royalisten und Ludwigs XVII. keine andere Möglichkeit.
»Und das sei der Dank dafür«, erwiderte Goethe, »dass ich mein Leben und das meiner Kameraden mehrfach aufs Spiel gesetzt habe, um einen Betrüger den Fängen Europas größter Armee zu entreißen? Da wäre kein anderer Weg, kein Mittel, als Tod – oder vielmehr Mord, abscheulicher Mord? Das ist ungeheuerlich. Es ist gottlos, und es kann nicht Ihr Ernst sein. Sie können das unmöglich fordern und zur gleichen Zeit Napoleon oder die Jakobiner Bestien schimpfen.«
De Versay gab betreten Zucker in seinen Kaffee und schwieg. »Niemand hat Sie gebeten, hierherzukommen«, antwortete Sophie Botta. »Meine Warnungen in der Weimarer Residenz waren deutlich genug. Aber dessen ungeachtet sind wir Ihnen fürwahr dankbar für Ihre
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