Das Erlkönig-Manöver
gesagt.«
»Und wie oft werden wir es noch sagen!«
Hiermit schlug sich Schiller die Kapuze über den Kopf und verließ den Hof durch die kleine Tür in der Mauer, gerade als die Glocken von den Kirchtürmen der Nach barschaft fünf schlugen. Eine halbe Stunde später bra chen auch die anderen auf.
In wohliger Erregung schlug Schillers Herz fast ebenso schnell wie der Absatz seiner Stiefel auf den Katzenköpfen der Straßen. In der Seilergasse hatte sich bei einem umrüsteten Haus eine Menschenmenge versammelt. Schiller zog die Kapuze seines Mönchsgewands etwas tiefer in die Stirn und drückte sich an der gegenüberliegenden Häuserwand an den Menschen vorbei, doch unversehens stürzte eine Frau aus dem Gedränge hervor und sperrte dem Eiligen den Pfad.
»Ein Mönch!«, rief sie. »Euch schickt der Himmel, ehrwürdiger Frater!« Ehe sich Schiller versah, schob sie ihn mit lauten Rufen ins Herz der Menge. »Platz, Platz dem Priester!«
Nun wurde der zweifach verkleidete Dichter auch des Grundes für den Auflauf ansichtig: Am Fuße des Gerüstes, das an das baufällige Haus gelehnt war, lag auf dem Pflaster ein Mann in seinem eigenen Blute und in Scherben gebrochenen Schiefers. Ein Bein stand in einem grotesken Winkel vom Rumpf ab.
»Der Schieferdecker ist vom Dach gestürzt!«, rief die Frau. »Er verlangt nach den Sakramenten, Frater! Ihr müsst ihm helfen, ehe es zu spät ist!«
Schiller ging neben dem Unglücklichen in die Knie. Das Rückgrat des Dachdeckers war zerschmettert. Seine Augenlider schlugen unaufhörlich auf und zu und offenbarten bald die Pupillen, bald das Augenweiß. Die rechte Hand, die auf seiner Brust lag, zitterte wie die eines greisen Mütterchens. Aus den anderen Gliedmaßen war das Leben bereits gewichen. Schiller wusste, dass diesem Mann kein Arzt auf Erden mehr helfen konnte: Noch in dieser Stunde würde er seine Seele ausgehaucht haben.
»Habt Ihr nach keinem Priester geschickt?«
»Haben wir, ehrwürdiger Bruder, haben wir längst!«, sagte die Frau. »Doch es kommt keiner!«
Ein junger Genosse des Schieferdeckers schimpfte, wechselsweise vor Wut mit den Zähnen knirschend und vor Angst damit klappernd: »Hol mich dieser und jener! Dank des gottlosen Frankenkaisers gibt es in der Stadt nicht Priester genug, einen Sterbenden zu segnen! Es ist zum –« Hier musste er so schwer schlucken, dass es ihm die Sprache raubte, und er wandte sein trostloses Antlitz ab.
»Ich kann nicht bleiben«, sagte Schiller, wobei er sich wieder aufrichtete. »Eine Angelegenheit von noch größerer Dringlichkeit ruft mich fort. Ich bedaure zutiefst, aber ihr müsst auf den bestellten Priester warten.«
Nun packte ein bärbeißiger, bärtiger Hüne Schiller mit beiden Armen. »Frater, ich bin der Meister dieser guten Seele. Ich muss fürder mit dem Elend leben, dass er unter meiner Aufsicht vor der Zeit zum Herrn gegangen ist. Gebt mich nicht auch noch der ewigen Verdammung preis, dass er es ohne die Ölung tat. Ich will es Euch mit allem Gold vergüten, aber, bei Gott und Seinen himmlischen Heerscharen: Bitte verlasst uns nicht.«
Schiller sah dem Mann in die Augen, und die Blicke aller Umstehenden waren auf ihm. Der Handwerker löste seine kräftige Umarmung nicht.
»Bringt mir Öl«, sagte Schiller schließlich.
Ein Aufatmen ging durch die eben noch schweigende Menge. »Bringt Öl!«, riefen diverse Stimmen, und der Meister sagte immerfort: »Gott segne Euch. Gott segne Euch, Frater.«
Wiewohl es Sünde war, dass Schiller nicht nur das Habit eines Klerikers trug, ohne selbst einer zu sein, sondern im Begriff war, ein Sakrament zu spenden, konnte er dem Sterbenden und den Trauernden diesen letzten Trost nicht versagen. Da ihm die Formeln der katholischen Liturgie nicht vertraut waren, begann er, Fachbegriffe seiner medizinischen Ausbildung aufzusagen, in der Hoffnung, das Lateinische allein würde bei den Umstehenden Eindruck machen. Es sollte ihm auch nach dieser Prozedur noch ausreichend Zeit bleiben, den Transport des Gefangenen zum Deutschhaus abzupassen. Schnell waren mehrere Fläschchen Öl aufgetrieben. Schiller bat die Schaulustigen um Abstand, und bald hatten die Genossen des Schieferdeckers sie so weit zurückgedrängt, dass keiner mehr hören konnte, was er sprach.
Wer ihn aber sehr wohl hörte, das war der Todgeweih te selbst, und so verzichtete Schiller bald auf das Latein und sprach dem Sterbenden Trost in deutscher Zunge zu. Da bei salbte er mit aller Vorsicht die blutige Stirn
Weitere Kostenlose Bücher