Das Erlkönig-Manöver
und die Hände des Mannes. Die Menschen um ihn bat Schil ler, für des Mannes Seele zu beten, und bald erfüllte andächtiges Gemurmel die Gasse.
Der Atem des Handwerkers beruhigte sich, und das Beben verließ seinen Körper. Doch er starb nicht, und auch der bestellte Priester blieb weiterhin fern. Kostbare Minuten verstrichen. Vom Turm schlug es zur Viertelstunde.
Schillers sorgende Seele befand sich nun in einem Dilemma von griechischem Ausmaß, denn einerseits konnte er weder den Sterbenden allein lassen noch sein schnelles Ableben erstreben, andererseits aber setzte er mit seinem Säumen möglichenfalls das Leben seiner Gefährten aufs Spiel. Eben noch hatte Schiller einen Sarg gezimmert, nun gab er einem Gezeichneten das letzte Geleit, bald würden sie einen anderen vom Schafott retten – heute war der Tod fürwahr sein ständiger Begleiter.
Unversehens bewegten sich die Lippen des Unglücklichen. Mit großer Mühe formte er Worte. Schiller beugte sich mit dem Ohr zu ihm hinab.
»Ihr seid kein Mönch«, wisperte der Mann. »Wer seid Ihr?«
»Ein ernster Freund«, flüsterte Schiller zurück.
»Was geschieht?«
Darauf wusste Schiller keine Antwort zu geben. Der Sterbende wiederholte seine Frage: »Was geschieht?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Schiller, doch da diese Antwort einen Ausdruck der Mutlosigkeit in den Augen des anderen erwirkte, flüsterte er schließlich: »Der Himmel öffnet seine goldnen Tore, und im Chor der Engel steht Maria da. Sie hält den ewigen Sohn an ihrer Brust und streckt dir lächelnd die Arme entgegen. Leichte Wolken heben dich hinauf.«
Unendlich langsam und ein letztes Mal schlossen sich die Lider des Mannes. In einem Seufzer wich das Leben aus seinem Körper.
»Kurz ist der Schmerz«, sagte Schiller etwas lauter, damit es der Mann noch hören mochte, bevor er diese Welt verließ, »und ewig ist die Freude.« Einen Moment schwieg er ergriffen und sagte dann: »Amen.«
Alle standen in sprachloser Rührung, als sich Schiller wieder erhob. Die Frau, die ihn aufgehalten hatte, legte ein Leinentuch sanft auf dem Toten nieder, dass es ihn ganz bedeckte. Seine Freunde ließen nun ihren Tränen freien Lauf. Das trauernde Miteinander nutzte Schiller, um sich unter der Menge wegzuducken, ehe man ihm Dank oder gar Lohn zollen konnte.
Die Angst beflügelte Schillers eilenden Fuß. Fast schon im Laufschritt nahm er den Weg zur Weintorgasse wieder auf, und eine Last fiel von seiner Seele, als er endlich von ferne die Zinnen des Zuchthauses im Abendrot schimmern sah. Als die Sonne unterging, stand er am Tor.
Im Hof des Deutschhauses banden sie ihre Pferde an. Arnim kletterte vom Bock und half Bettine, nun vollends als Matrone verkleidet, galant aus der Kutsche. Sie schulterten die Flinten und prüften den Sitz ihrer Röcke.
»Eines noch, Kameraden«, raunte Humboldt den anderen zu, »sollte ich, aus welchen Gründen auch immer, zurückfallen, wartet nicht auf mich. Ich werde mir selbst zu helfen wissen.«
»Gleiches gilt für mich«, sagte Kleist.
»Und für mich«, sagte Arnim.
»Aber sicherlich nicht für mich«, sagte Bettine. »Soll te ich zurückfallen, rettet mich gefälligst, oder geht mit mir zugrunde.«
Und Goethe: »Der Worte sind genug gewechselt. Schreiten wir zur Tat.«
Mit dem Glockenschlag betraten sie, von Lieutenant Bassompierre alias Geheimrat Goethe geführt, das Palais. Es war jetzt, zur Abendstunde, weitaus leerer als bei Humboldts letztem Besuch. Ein Kommis geleitete sie in das Bureau des Präfekten, in dem bereits dieser und zwei Uniformierte warteten. Jeanbon Saint-André begrüßte erst Goethe und die vermeintliche Madame de Rambaud aufs Höflichste, dann stellte er ihm die beiden anderen Anwesenden vor: Capitaine Santing und seinen Adjutanten. Der Präfekt berichtete, dass Santing derjenige gewesen sei, dem es gelungen war, den Mann, der sich als Dauphin ausgab, in Hamburg aufzuspüren und nach Mainz zu bringen, wo über sein Schicksal entschieden werden sollte. Der Capitaine war von mittlerer Statur, aber äußerst kräftig. Dichtes schwarzes Haar bedeckte sein Haupt, und auch seine Augen, mit denen er die Gefährten einen nach dem anderen durchdringend musterte, schienen beinahe schwarz zu sein. Eine rote, schlecht vernarbte Schmarre an seinem Hals zog sich vom Kiefer bis unter das Ohr. Als er sprach, tat er es ähnlich wie Schiller in gefärbtem Französisch, nur eben nicht schwäbisch-weich, sondern vielmehr bairisch-hart.
»Sie klingen
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