Das Erlkönig-Manöver
möglich zu halten. Ich verlangte sofort zu wissen, warum man nicht auch meine Schwester befreit hatte, und man legte mir dar, dass es einerseits zu riskant gewesen wäre, uns beide auf einen Streich zu entführen, und dass Marie-Thérèse-Charlotte andererseits weniger vom Konvent zu befürchten hatte als ich, da sie als Frau nie Anspruch auf den Thron erheben könne. Meine Schwester kam später auf dem Wege der Diplomatie frei; man einigte sich mit Österreich auf ein Tauschgeschäft und lieferte sie in Basel gegen zwölf französische Kriegsgefangene aus, von denen einer im Übrigen – Ironie der Geschichte – ein Dragoner namens Drouet war, der nämliche Postmeister, der seinerzeit uns re Flucht in Varennes vereitelt hatte. Doch das Schicksal der Madame Royale ist eine andere Geschichte. Ich hoffe lediglich, dass sich unsre Wege nach all den Jahren der Trennung irgendwann einmal wieder kreuzen.
Der Stumme im Großen Turm lebte indes länger, als Barras erwartet hatte. Die nachfolgenden Besucher wurden tatsächlich von der Ähnlichkeit unsrer Erscheinung und Barras’ falschen Angaben getäuscht; allein am plötzlichen Verlust der Sprache des vermeintlichen Dauphins stießen sich einige. Man machte schließlich die ruppige Behandlung durch das Ehepaar Simon für die Sprachlosigkeit des Knaben verantwortlich. Laurent, der nicht mehr lange seinen Dienst im Temple versah, erklärte gar, ich hätte nach der schändlichen Falschaussage gegen meine Mutter ein Schweigegelübde abgelegt. Ein Arzt, der den kranken Knaben untersuchte und beschwor, es handele sich bei ihm nicht um den Dauphin, wurde wenig später zu einem Diner mit Konventsmitgliedern eingeladen: eine Henkersmahlzeit für den nichtsahnenden Mitwisser, der noch am selben Abend unter den ärgsten Brechkrämpfen verstarb.
Der Bescheid vom Tod dieses Arztes versetzte das Haus Petival in Aufruhr, war man doch überzeugt, dass ich auch in Vitry nicht länger sicher war. Im Einverneh men mit Barras kam man darin überein, mich in die Vendée zu bringen, zu den Aufständischen, bis wohin damals weder der Arm des Konvents noch der des Sicherheitsausschus ses reichte. Den beklagenswerten Monsieur Petival ereilte nach meiner Abreise das Schicksal so vieler, die mir auf meinem Wege geholfen hatten: Er wurde als Zeu ge meiner Entführung im Park seines Schlosses niedergestochen, und der Auftraggeber dieser Bluttat hieß ohne Zweifel Barras, der sich eines weiteren Mitwissers entledigen wollte.
Am 8. Juni des Jahres 1795 starb der falsche Dauphin, möge Gott seiner Seele ewigen Frieden schenken. Vier Arzte nahmen die Obduktion des Toten vor und fanden neben den von Barras beschriebenen Krankheitsmerkmalen eine Anzahl von Beulen, die die Gedärme und den Magen bedeckten. Der Knabe war augenscheinlich an Skrofulose gestorben. Wie kurios, dass er, der den König von Frankreich spielte, just an dem Leiden verstarb, von dem man sagte, dass es die Könige von Frankreich am Tag ihrer Krönung durch Handauflegen zu heilen vermochten! Als die Kunde von meinem vermeintlichen Tod meinen Onkel, den Comte de Provence, ereilte, ließ er sich zum König Louis Dix-huit ausrufen.
Haben Sie noch ein wenig Geduld; ich nähere mich dem Ende meiner Erzählung und werde Ihre geschätzte Aufmerksamkeit nicht viel länger in Anspruch nehmen.
In der Vendée verlebte ich in der Obhut der Royalisten eine den Verhältnissen entsprechend ruhige und angenehme Zeit. Dort wurde ich auch unterrichtet wie ein gewöhnlicher Knabe, unter anderem in der deutschen Sprache, der Sprache meiner Mutter. Als aber der royalistische Aufstand in der Vendée im Jahre 1796 mit der Exe kution seiner Anführer endgültig niedergeschlagen wur de, musste ich, nun elf Jahre alt, in der Begleitung dreier Getreuer erneut fliehen. Wir begaben uns nach Venedig, dann weiter nach Triest und schließlich nach Rom, wo wir auf die Hilfe des Papstes hofften.
Warum ich nicht zu meinen Onkeln ging, fragen Sie? Nun, zum einen hätte ich riskiert, dadurch mein Inkogni to preiszugeben – denn sicherlich hätten die beiden meine wundersame Auferstehung nicht unter Verschluss gehalten – und wäre so das Ziel neuer Anschläge geworden. Zum anderen aber betrachteten meine Beschützer den Comte de Provence, respektive Louis Dix-huit, und den Comte d’Artois nicht als meine Freunde, sondern als meine Gegner, denn solange ich lebte, würden sie niemals König werden können. – Sie erschauern bei diesen Abgründen und glauben nicht,
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