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Das Erlkönig-Manöver

Das Erlkönig-Manöver

Titel: Das Erlkönig-Manöver Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Löhr
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ich mich daran erfreute, derweil meine Familie um den Verstorbenen trauerte.
    Der Tod meines Bruders war nun das erste Glied in einer Kette unglücklicher Ereignisse, dem die Gründung der Nationalversammlung und der Sturm auf die Bastille folgten. Sosehr mein Vater versuchte, die wilde See der Revolution zu besänftigen oder zumindest in ihren Wellen und Wirbeln obenauf zu bleiben, gelang es ihm nicht, weil das berauschte Volk der Bürger ihm ein Privileg nach dem anderen nahm, bis er schließlich nur noch dem Namen nach König war. Er wurde nicht etwa gestürzt, weil er ein Tyrann war, sondern, ganz im Gegenteil, weil er im entscheidenden Moment nicht tyrannisch genug war. Ausgerechnet seine Liebe für das Volk war es also, die zur Folge hatte, dass ihn das Volk auf die Guillotine brachte.
    Einer Gruppe Marktweiber gelang es, nachdem sie im Versailler Schloss eingebrochen waren und zahlreiche Wachen ermordet hatten, den Umzug der königlichen Familie in den Pariser Tuilerien-Palast zu erzwingen, und allein dieser Vorfall macht deutlich, über wie viel Macht die Bürger schon verfügten und über wie wenig mein Vater. Immer radikaler wurden die Forderungen der Pariser, immer tumultuarischer die Zustände im Land, sodass mein Vater schließlich keinen anderen Weg sah, seine Familie vor der Gewalt des Pöbels zu schützen, als aus Paris und Frankreich zu fliehen. Zu sehr waren die Tuilerien zu unserm Gefängnis geworden, zu zahlreich die Attacken auf uns, insbesondere aber auf meine unglückselige Mutter, die vielen meiner Landsleute zu Unrecht verhasst war. Missverstehen Sie mich nicht: Ich verdam me die Sansculotten nicht für ihre Ziele – denn diese, so un wahrscheinlich es heute klingt, deckten sich doch zunächst noch mit denen meines Vaters –, sondern für ihre barbarischen Mittel, die unmöglich die Grundlage sein konnten für die Erschaffung eines menschenwürdigen Staates.
    Die Flucht ward also resolviert, und im Juni 1791 be stiegen wir eine Kutsche, die uns auf habsburgisches Gebiet, in die Heimat meiner Mutter, bringen sollte – wir, das waren neben meinen Eltern und meiner Schwester Marie-Thérèse-Charlotte die Schwester meines Vaters, Madame Elisabeth, unsre Gouvernante, ein schwedischer Graf und Favorit meiner Mutter sowie drei Leibgardisten, die alle zusammen eine Reisegesellschaft mit falschen Namen mimten. Ich selbst wurde mit Mädchenkleidern kostümiert und hielt das Ganze für ein vortreffliches Spiel.
    Fatalerweise hatte mein Vater bei der Fahrt nach Osten zu viel Wert auf Bequemlichkeit gelegt und zu wenig auf Eile, und eine Reihe unglücklicher Zwischenfälle zog weitere Saumseligkeiten nach sich. Unser Schicksal war besiegelt, als mein Vater im Weiler Sainte-Menehould aus dem Wagenfenster blickte und der scharfsinnige Sohn des dortigen Postmeisters sein Konterfei als jenes erkannte, welches auch auf die Vorderseite des Louisdors geprägt war. Der Postmeister selbst folgte darauf unsrer Kutsche mit dem Pferde nach Varennes-en-Argonne, wo er rechtzeitig die Behörden informierte, uns an unsrer Weiterfahrt zu hindern. Den Anweisungen des Königs zum Trotz, wurden wir am nächsten Tag zurück nach Paris eskortiert; ein wahrer Spießrutenlauf für meine El tern, die den wüsten Beschimpfungen und Handgreiflichkeiten der Menschen am Wegesrand schutzlos ausgeliefert waren.
    Die Flucht also, die uns der Unfreiheit und den Angriffen hatte entziehen sollen, verschärfte am Ende beides nur umso mehr. Nicht einmal die Tuilerien sollten jetzt noch gut genug für uns sein: Im August 1792 wurde der Palast von den Sansculotten gestürmt und in Brand gesetzt, und wir vier, zusammen mit meiner Tante Elisabeth, wurden im Turm des Temple einquartiert – nein, das Wort trifft die Lage nicht: Wir wurden eingekerkert. Erst jetzt hatten meine Eltern vollends begriffen, zu welchen Taten die Revolutionäre imstande waren. Doch jetzt war es zu spät.
    Die ehemalige Ordensburg der Tempelritter in Paris war kaum eine Burg, mehr ein Wehrturm zu nennen: ein hoher Bau aus dunklem Stein, mit Zinnen und spitzen Schieferdächern obenauf, dazu ein kleiner ummauerter Garten. Die Fenster, ehemalige Schießscharten, waren so schmal, dass kaum Licht hindurchfiel. Trotz der heißen Jahreszeit war es im Innern angenehm kühl; ein Umstand, den wir zunächst noch begrüßten, der aber in den Wintermonaten manch böse Influenza zur Folge haben sollte. An einer der Fassaden des großen Turms war ein kleinerer Turm angebaut worden,

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