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Das Erlkönig-Manöver

Das Erlkönig-Manöver

Titel: Das Erlkönig-Manöver Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Löhr
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die Guillotine.
    Nachdem ich bei dieser juridischen Farce meine Schuldigkeit getan hatte, wurde ich vollkommen isoliert: Man nahm mir auch die Pflegeeltern und sperrte mich in eine dunkle, vergitterte Einzelzelle, fast schon ein Käfig zu nennen, wo ich mein Essen von den Händen Unbe kannter durch die halb offne Tür geschoben bekam. Mei ne Einsamkeit wurde bald so unerträglich, dass ich mich selbst nach den ungeschlachten Simons zurücksehnte, denn zu den Wärtern war mir der Kontakt verwehrt. Vielleicht war mein Leiden eine gerechte Strafe für den Verrat an meiner Mutter.
    Auch mein Leben war nun von Tag zu Tag mehr bedroht. Einerseits wollten viele Jakobiner den letzten Abkömmling der unreinen Rasse der Tyrannen, wie sie mich nannten, austilgen, andererseits damit alle königstreuen Kräfte, sei es in Frankreich, etwa in der widerständigen Vendée, oder im Ausland endgültig der Hoffnung berauben, ein Bourbone würde je wieder den Königsthron besteigen. Im Sommer 1794, als Menschenleben in Frankreich so wertlos waren wie nie zuvor – die Revolution fraß nun ihre eignen Kinder; die Blutgerüste füllten sich für sie mit immer neuen Todesopfern an, selbst Robespierre wurde guillotiniert und mit ihm sein Gefolgsmann Antoine Simon –, schienen auch meine Tage gezählt.
    Aber einen Tag nach der Enthauptung Robespierres trat eine neue Figur in diese Geschichte und höchstpersönlich in meine Zelle: der Vicomte de Barras. Damals konnte ich noch nicht ahnen, dass ausgerechnet dieser Mann, dieser Ehrgeizling, der eine der maßgeblichen Kräfte sowohl hinter der Hinrichtung meines Vaters wie der Robespierres gewesen war, mir zurück in die Freiheit verhelfen sollte. Gleichviel: Barras hielt den Sieg der Koalition gegen das revolutionäre Frankreich für sehr wahrscheinlich, und um für diesen Fall ein Pfand gegen die Brüder meines Vaters, den Comte de Provence und den Comte d’Artois, in der Hand zu haben, beschloss er meine Entführung aus dem Temple. Er tat sich in dieser Angelegenheit mit einer ehemaligen Geliebten und überzeugten Royalistin zusammen, der Witwe des Vicomte de Beauharnais, Joséphine, die, wie Sie natürlich wissen, später auf Barras’ Vermittlung die Ehefrau und Kaiserin an Bonapartes Seite wurde.
    Barras also suchte mich im Großen Turm auf und er stattete dem Wohlfahrtsausschuss danach Bericht. Er schilderte meinen Zustand als vernachlässigt und beklagenswert. Er hätte mich liegend vorgefunden, da ich mich wegen geschwollener Knie kaum bewegen konnte, und mein Körper wäre bleich und aufgedunsen gewesen – sämtlich falsche Behauptungen, deren Zweck sich Ihnen im weiteren Verlauf der Geschichte offenbaren wird. Denn all diese Symptome trafen auf einen anderen Knaben zu: den stummen Sohn einer armen Witwe, der im höchsten Grade rachitisch war und nicht mehr lange zu leben hatte. Das Kind, wiewohl etwas älter als ich, hatte die gleiche Statur, die gleichen blonden Locken und die gleiche blasse Haut wie ich. Sein Schicksal war es nun, an meiner Statt zu sterben. Barras’ Sekretär kaufte der Frau den todgeweihten Sohn ab.
    Wenig später übernahm ein Kreole namens Laurent die Leitung des Temple-Gefängnisses – ein Landsmann Joséphines aus ihrer Heimat Martinique, den sie bei Barras in Dienst gebracht hatte. Jetzt endlich konnte der Plan ausgeführt werden: Laurent hatte eine Schwester, die ihn von Zeit zu Zeit im Temple besuchte, um ihm die Wäsche zu bringen. Keine der Wachen beargwöhnte ihr Kommen also. Am entscheidenden Tag aber kam sie nicht allein, sondern in Begleitung ihrer Nichte, und diese Nichte war niemand anderes als der sterbenskranke Sohn der Witwe. Man hatte ihm Gesicht, Hals und Hände kreolisch gebräunt, sein Haar unter einer Haube versteckt und seinen Körper in Mädchenkleider gehüllt. Mühelos gelangten die beiden am Pförtner vorbei und zusammen mit Laurent in meine Zelle. Dort tauschte ich die Kleider mit denen des vorgeblichen Mädchens, färbte mein Gesicht, wie der Stumme es getan hatte – und verließ mit Laurents Schwester vollkommen unbehelligt den Temple, der zwei Jahre mein Gefängnis gewesen war. Der wachhabende Offizier nickte mir zum Abschied sogar noch lächelnd zu.
    In der Rue Portefoin wurde ich von einer Kutsche aufgenommen und von einem gewissen Monsieur Petival, einem heimlichen Royalisten, auf dessen Landgut in Vitry-sur-Seine gebracht, wo ich auch in den nächsten Wochen weiterhin Mädchenkleider trug, um meine Flucht so geheim wie

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