Das Erlkönig-Manöver
in dem man uns unterbrachte, bis der Große Turm bewohnbar gemacht worden war; in Zimmern, die nicht nur im Vergleich zu den Tuilerien lächerlich klein waren.
Man hatte uns lediglich zwei Diener gelassen, aber ganze fünfundzwanzig Mann waren zu unsrer Bewachung abkommandiert; fünfundzwanzig Mann, die uns Tag und Nacht, selbst in unsern privaten Gemächern, nicht aus den Augen ließen – insbesondere eine für meine Mutter und meine Schwester entwürdigende Behandlung – und jeglichen Kontakt mit der Außenwelt unterbanden. Unsre gelegentlichen Spaziergänge fanden hinter hohen Mauern statt, und bevor man uns auf den Wehrgang des Großen Turmes ließ, hatte man die Lücken zwischen den Zinnen mit Brettern geschlossen, um uns den Blick auf Paris und den Parisern den Blick auf uns zu verwehren.
Bewundernswert war der Gleichmut meines Vaters, der nur noch mit seinem bürgerlichen Namen Louis Ca pet angesprochen wurde. Er erduldete alle Demütigungen mit Fassung und hatte selbst mit seinen Peinigern Nachsicht, während der Konvent jenseits der Mauern des Temple über sein Geschick entschied. Er hielt einen strengen Tagesablauf ein: frühes Aufstehen, die Rasur, die Morgentoilette, das Gebet, das gemeinsame Frühstück und da nach mein Unterricht, den mein Vater mir mangels anderer Lehrer selbst erteilte. Die Arithmetik allerdings musste bald aufgegeben werden, weil sie unsern ungebildeten Wächtern als eine Art geheimer Chiffrensprache erschien. Als eines Tages ein Handwerker kam, um unsre Türen zu verstärken, unterrichtete mich mein Vater sogar im Umgang mit Hammer und Zange, worauf der Handwerker sagte: ›Wenn man Sie dereinst wieder freilässt, werden Sie sagen können, Sie hätten selbst an Ihrem Gefängnis gearbeitet!‹ Mein Vater antwortete, unachtsam, dass auch ich ihn hörte: ›Ich bezweifle, dass man mich je wieder freilässt.‹ Hierauf ließ ich die Werkzeuge fallen und stürzte mich weinend in seine Arme, denn nun hatte selbst ich vollends begriffen, dass wir verloren waren.
Am 17. Januar des folgenden Jahres wurde mit 361 über 360 Stimmen sein Todesurteil gesprochen, und als wir uns um ihn versammelten, in Tränen aufgelöst, nahm er mich zu sich auf den Schoß und ließ mich das heilige Versprechen ablegen, seinen Tod und den Tod unsrer Freunde und Getreuen nie zu rächen. Dann strich er mir über den Kopf und flüsterte: ›Mein kleiner Louis- Charles, dir ist nie das Unglück zu wünschen, König zu werden.‹ Vier Tage später wurde er auf der Place de la Concorde enthauptet, und ich war der neue, rechtmäßige, wenn auch nie ausgerufene König von Frankreich, Louis Dix-sept.
Man hatte mir den Vater genommen, nun nahm man mir auch die restliche Familie, indem man mich von Mutter, Schwester und Tante trennte und in die Obhut neuer, republikanischer Pflegeeltern gab – des Schusters Antoi ne Simon und seiner Frau Maire-Jeanne; groben, lauten und vulgären Menschen, die selbst keine eignen Kinder hatten und die aus dem Sohn Louis’ des Gekürzten – denn so nannte man meinen verstorbenen Vater mit kaltem Spott – ein Kind des Volkes formen sollten: Sie lehrten mich die Sprache der Gosse, ich musste meine Tischmanieren ablegen, wir sangen gemeinsam den Marseiller Marsch und das Ça ira , und ehe ich mich versah, schimpfte ich armseliger Knabe selbst in den übelsten Tönen auf das Haus der Bourbonen und die Autrichienne, ohne so recht zu begreifen, dass ich damit über meine eigne Mutter läster te. Ich litt viele Kränklichkeiten in dieser Zeit; ob es an der wenigen frischen Luft lag, die einem Kind so bitter nötig ist, oder an der Sehnsucht nach meiner wahren Familie – entscheiden Sie.
Bald wurde auch meine Mutter auf die Anklagebank gezerrt, und da man ihr keine Verbrechen vorwerfen konnte, erfanden die Jakobiner eines: Meine Mutter sollte sich an ihren eignen Kindern vergangen haben, ein eben so ungeheuerlicher wie unhaltbarer Vorwurf, der nur des halb seinen Weg ins Gericht fand, weil man mich ein fingiertes Protokoll unterschreiben ließ, in dem ich selbst meine Mutter der absurdesten Verbrechen anklagte. Gott mag einem achtjährigen Knaben vergeben, dass er damals nicht ermessen konnte, was seine ungelenke Signatur unter einem Text, den er nicht gelesen hatte, für Folgen nach sich zog – ich selbst werde es nie tun. Meine gelieb te Schwester sah ich bei diesem Schauprozess ein letztes Mal und seitdem nie wieder. Tante Elisabeth folgte meiner Mutter ein halbes Jahr später auf
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