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Das ermordete Haus

Das ermordete Haus

Titel: Das ermordete Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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Abend des Blutbads …«
    »Sie waren da?«
    »Ja. Ich werde es Ihnen erzählen. Hören Sie mir zu, ohne mich zu unterbrechen. Urteilen Sie erst dann über mich.«
    »Ich bin kein Richter.«
    »Doch, Sie sind es, Sie müssen es sein. Sie sind der Nachkomme. Ja. Ich war da. Ich war gerade angekommen. Ich hatte die Tür geöffnet – sogar ohne anzuklopfen, wie mir jetzt einfällt, so sehr war ich davon überzeugt, daß man mich wie den Messias erwartete, nur weil ich ein Geselle aus der compagnie du devoir war, ein Handwerksgeselle, ein dévoirant. Oh, ich habe schnell bemerkt, daß ich höchst ungelegen kam. Ihr Vater runzelte die Stirn wie jemand, der denkt: Der hat uns gerade noch gefehlt. Er machte einen gehetzten Eindruck. Er ging auf und ab. Ihre Mutter hatte schnell ihre Brust bedeckt. Ich nehme an, sie wollte Sie gerade stillen. Nun ja … Ich habe wohl gemerkt, daß ich nicht erwünscht war. Aber schließlich hatte ich schon hundert Kilometer im Regen hinter mir – seit Marseille, von wo ich kam. Und ich war zwanzig Jahre alt. Ich war trunken von Freiheit und von dem Wunsch, die Zukunft zu erobern. Ich fühlte mich ungebunden. Die anderen erschienen mir nur als Figuren auf einem Wandbehang, zwischen denen ich mich als einziger frei bewegen konnte.« Der Mann seufzte: »Sie werden sich fragen, warum ich Sie gerade hierher bestellt habe.«
    »Nein«, sagte Séraphin, »erzählen Sie weiter. Sie waren in der Küche. Meine Mutter gab mir die Brust. Mein Vater ging auf und ab.«
    »Ja, er packte mich am Arm. Er hob die Falltür hoch – mein Gott, wie kann ich dieses Wort nur aussprechen, ohne ins Zittern zu geraten. Dann ließ er mich die Holztreppe zu den Ställen hinabsteigen. Er brachte mir einen Laib Brot, eine Salami und Käse. Ohne ein Wort zu sagen, ohne mich irgend etwas zu fragen. Er hatte eine Falte mitten auf der Stirn, die nicht verschwinden wollte.«
    Séraphin trank jedes Wort von seinen Lippen. Der alte Burle hatte Tote vorgefunden. Dieser hier sprach von Lebenden. Er ließ seinen Vater lebend vor seinen Augen erstehen, und seine Mutter war am Leben gewesen, als sie – erschrocken über das Eindringen eines Fremden – züchtig ihre Brust bedeckt hatte.
    »Er hat mir ein Lager auf den Postsäcken angewiesen«, fuhr der Mann fort. »Ich erinnere mich genau. Es roch nach Wachs. An den zugebundenen Jutesäcken waren große rote Siegel. Das Lager war rauh, aber warm und vor allem trocken. Ich habe mich ausgestreckt und etwas gegessen. Ich muß eingeschlafen sein vor Erschöpfung – mit einem ungekauten Bissen zwischen den Zähnen – Sie sehen, wie gut ich mich an alles erinnere … Oh, nicht lange! Ich glaube, es gab irgendwann einen dumpfen Stoß, der die Balken erzittern ließ. Ich stand auf. Ich hatte Durst. Er hatte vergessen, mir etwas zu trinken mitzugeben. Auf einem Wandbrett stand eine alte Laterne. Ich schaute in die Eimer für die Pferde. Damit hatte ich mich oft begnügt. Aber sie waren leer. Also sagte ich mir: ›Was soll’s, du wirst ungelegen kommen, aber etwas trinken mußt du schließlich.‹«
    Er machte eine Pause. Dann wiederholte er: »Etwas trinken mußt du schließlich … Ich ging auf die Holztreppe zu«, fuhr er fort, »die sich im Dunkeln befand. Oh, ich hatte wohl bemerkt, daß die Pferde ein bißchen tänzelten. Sie waren unruhig, sie streckten die Hälse nach ihren Hufen und schnaubten laut. Aber wenn man zwanzig Jahre alt ist, achtet man nicht auf solche Zeichen.« Er seufzte abermals, bevor er weitererzählte. »Die Holztreppe hatte zweiundzwanzig Stufen. Weiß Gott, ich hatte genug Zeit, mich an jede einzelne von ihnen zu erinnern … Ich weiß noch, daß ich meine Bewegung nicht ganz ausgeführt habe, daß mein Arm, der die Tür aufhielt, vielleicht zwei Minuten ausgestreckt blieb. Du meine Güte … Ich habe nicht alles sofort mitgekriegt. Denn sehen Sie, ich habe alles gleichzeitig gesehen, in weniger als zwei Sekunden, und ich brauche fünf Minuten, um es Ihnen zu erzählen …«
    Er ließ sich auf die mit Trümmern übersäten Altarstufen sinken, als versagten ihm die Beine schon beim Gedanken an das, was er erzählen würde, den Dienst.
    »Alles gleichzeitig«, wiederholte er. »Da kam so eine Art von roter Schlange geradewegs auf mich zu, über den Staub hinweg bewegte sie sich vorwärts, als ob ihr eigenes Gewicht sie vorantreiben würde. Wie soll ich es Ihnen beschreiben? Sie schlängelte sich durch die Fugen zwischen den Bodenfliesen, und dann erreichte

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