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Das ermordete Haus

Das ermordete Haus

Titel: Das ermordete Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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zerfloß vor Mitleid mit demjenigen, der hier in solcher Bescheidenheit hauste. Denn bei jemandem, der einen Raum, in dem sich vier Kilo Goldmünzen befanden, unverschlossen ließ, konnte es sich nur um einen zutiefst unglücklichen Menschen handeln.
    Als die Limousine bei der kleinen Anhöhe, auf der die Kapelle von Saint-Donat steht, die Straße erreichte, die nach Mallefougasse hinaufführt, konnte man sehen, wie das Sonnenlicht über die Wipfel der großen Steineichen hüpfte und sie in Meereswellen verwandelte. Aus der erstarrten Dünung dieser dichten Wälder ragte die tausendjährige Kirche empor wie ein riesiger Steinhaufen.
    Diese Ruine war nicht totzukriegen. Man hatte sie geplündert und geschleift, man hatte die Schieferplatten, die Winkeleisen an den Ecken abgerissen, man hatte die mit Reliefs geschmückten Kapitelle der kleinen Säulen, die von der Ankunft des heiligen Donatus in seiner Doline erzählten, in den Eingang geworfen. Und dennoch behauptete das gedrungene Kreuz ihres Grundrisses, mit seinen kurzen Querbalken, die so recht geschaffen waren, der Erosion zu trotzen, noch immer seinen Platz im grünen Vlies des Waldes.
    Zehn Kilometer von jedem bewohnten Ort entfernt lagert der Block dieser Zitadelle tief in den Wäldern. Er überragt sie und hält sie auf Distanz. Einsam, massig, hoch aufragend erschien er als ein stummes, eine unbestimmte Drohung aussprechendes Rätsel, wie alle Bastionen der Frömmigkeit. Wer hatte ihn erbaut? Wo waren die Massen geblieben, die eine Reihe gebildet hatten, um beim Gesang frommer Hymnen auf den Heiligen die Steine heranzuschaffen? Jetzt wurde die Kapelle vom Wald belagert, die Steineichen kreisten sie ein, hielten sie gefangen. In den letzten vierundzwanzig Jahren hatte sie sich nicht verändert – seit jener Nacht, in der sie dem Handwerksgesellen im letzten Mondlicht erschienen war, kurz bevor alles dunkel wurde und der Regen wieder einsetzte. Sie war inzwischen nicht noch weiter verfallen, die gleichen Gewächse hatten sich damals schon auf dem unförmigen Dach ausgesät.
    Der Mann gab dem Chauffeur den Befehl zu warten und begann, die Anhöhe zu dem Gotteshaus hinaufzusteigen. Er folgte den Spuren des schlanken, beweglichen jungen Mannes, dem die Angst Flügel verliehen hatte. Auf seiner ziellosen Flucht war er von diesem schwarzen Vorbau angezogen worden, der sich vor dem gewaltigen leeren Kirchenschiff auftat, mit seinem Boden aus gestampfter Erde, auf den der Regen von neuem laut niederprasselte. Hier war er wieder ein wenig zur Besinnung gekommen und zu der Überzeugung gelangt, daß es für den letzten Zeugen eines Verbrechens keinen Zufluchtsort gibt. Nur die Flucht …
    Heute, an diesem milden Abend im November, sah man die Spitze des Kirchenschiffes nur mehr durch einen Nebelschleier. Hoch oben, rings um die starken runden Säulen, die bis zu fünfzehn Meter in die Höhe ragten, kreisten schon Schwärme von Fledermäusen.
    Der Mann schaute auf seine Uhr. Würde er kommen? War es falsch gewesen, ihm diesen Ort als Treffpunkt zu nennen, statt einfach bei ihm zu Hause auf ihn zu warten? Er hatte dem Drang nachgegeben, diese Kirche an seiner Beichte teilnehmen zu lassen, und lief nun Gefahr, daß niemand sie ihm abnehmen würde.
    Er ließ den Vorbau, in dem das Tageslicht immer schwächer wurde, nicht aus den Augen. Plötzlich brachte eine dunkle Masse es völlig zum Verlöschen. Jemand kletterte den Eingang hinauf, denn die vier Stufen, die einst zu ihm geführt hatten, waren längst gestohlen worden, und so mußte man sich mit den Armen hochziehen, so wie er es selbst kurz zuvor getan hatte. Der Neuankömmling richtete sich langsam aus seiner gebückten Stellung auf und kam näher. Gebannt sah der Handwerksgeselle, wie er mit ausdruckslosem Blick, der durch ihn hindurchzugehen schien, auf ihn zukam. Er betrachtete diese eindrucksvoll massige und zugleich leichtfüßige Gestalt, die vollkommen lautlos dahinschritt und mit einer stämmigen, vor ihm aufragenden Säule verschmolz, als ob der Mann sie auf seinen Schultern trüge.
    Der Besucher hielt dem Handwerksgesellen den Zettel hin, den dieser ihm auf den Tisch gelegt hatte.
    »Haben Sie das geschrieben?«
    »Ja«, sagte der Mann.
    »Ich heiße Séraphin Monge«, sagte Séraphin.
    »Ich weiß. Als ich Sie zum ersten Mal gesehen … ich meine, als ich Sie zum ersten Mal wahrgenommen habe, paßten Sie bequem in eine Wiege, und Sie schrien, weil Sie Hunger hatten … Ich war da«, sagte er leise, »am

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