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Das ermordete Haus

Das ermordete Haus

Titel: Das ermordete Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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dieses Ding die Kante der Falltür, platzte auf und ergoß sich über mich. Meine Hose war sofort bespritzt. Gott verzeihe mir … Einige Tropfen fielen auf meine Knöchel oberhalb der Schuhe. Ich hab sie gespürt … Sie waren warm … Aber ich hatte keine Zeit, mich damit aufzuhalten. Ich sah … Oh, nicht weiter als einen Meter entfernt! Ein Gewirr aus Rock und Bluse und Haaren, und das Ganze kroch auf dem Boden und machte ein schreckliches Geräusch, wie ein durchlöcherter Blasebalg, und an einem Ende war ein Arm, der sich nach der Wiege ausstreckte, in der Sie lagen … Und er hätte Sie fast erreicht, aber kurz vorher fiel er leblos herunter.«
    »Meine Mutter«, sagte Séraphin leise.
    »Aber zur gleichen Zeit sah ich auch … aber das nur in einem roten Nebel … Verstehen Sie, die Lampe war umgefallen, und nur die Flammen des Kamins erhellten den Raum. Da sah ich zwei Männer miteinander kämpfen. Und einer davon war Ihr Vater. Er hielt etwas in der Hand. Auch etwas Rotes. Und auch der andere hatte eine Waffe, die blitzte, und beide versuchten, sich die Kehle durchzuschneiden, in aller Stille, ohne ein einziges Wort. Und dann gewann Ihr Vater die Oberhand. Er stieß den Mann mit dem Knie gegen den Kamin. Der andere verlor das Gleichgewicht. Er fiel nach hinten, konnte sich jedoch noch an dem Bratspieß festhalten, der sich dabei von der Wand löste. Er hatte ihn in der Hand, in dem Augenblick, als Ihr Vater sich auf ihn stürzte. Dabei hat er sich selbst aufgespießt … Und dann … Dann hat Ihr Vater mit diesem Bratspieß im Leib noch einen Schritt, vielleicht zwei Schritte gemacht. Mit beiden Händen hat er sich an der Kaminwand abgestützt. Und dann hat der andere Mann –«
    »Ein Mann?« keuchte Séraphin. »Sind Sie sicher, daß es nur ein Mann war?«
    »Ja, ein einziger, der jetzt etwas Glänzendes in der Hand hielt. Er ist auf Ihren Vater zugegangen, hat ihm den Kopf nach hinten gerissen und ihm die Kehle durchgeschnitten …«
    »Ein einziger Mann …« wiederholte Séraphin.
    »Ja. Es war noch ein anderer im Raum, aber das war ein Greis. Er saß im Sessel vor dem Herd, die Hände flach auf den Armlehnen, die Augen zum Himmel gerichtet, mit einem langen roten Bart.«
    »Und diesen einen Mann«, fragte Séraphin, »haben Sie den genau gesehen?« »Nein. Ich habe nur eine schwarze Masse gesehen. Ich habe das Aufblitzen eines Auges gesehen, zwei kräftige Beine und zwei Hände. Ungefähr so wie Ihre. Schultern in voller Bewegung, ungefähr so wie Ihre. Das hab ich gesehen. Ich sagte Ihnen schon, die Lampe war umgefallen. Und außerdem hatte mich die Angst gepackt. Alles, was ich Ihnen da erzähle, hat sich blitzschnell abgespielt. Ich habe die Falltür sofort wieder zugemacht. Sie hat geknirscht, als sie sich über dem Blut schloß, das schon anfing zu gerinnen. Nie habe ich dieses winzige Geräusch vergessen. Ich sagte mir, daß mein Schicksal besiegelt wäre, sollte der Mann es auch gehört haben. Ich hatte Angst, verstehen Sie, Angst. Ich zitterte wie Espenlaub. Haben Sie je Angst gehabt?«
    Séraphin hob den Blick zum oberen Säulenende empor, das jetzt in der Höhe des Schiffs nicht mehr zu erkennen war. »O ja«, sagte er leise.
    »Dann sollten Sie mich verstehen. Ich hatte vor Angst den Verstand verloren. Sie hielt mich noch monatelang, vielleicht jahrelang in ihrem Griff. Ich bin die Holztreppe wieder hinuntergeklettert. Ich habe mein Lager wieder aufgesucht. Und da begriff ich blitzartig, daß ich nach dem Verschwinden des Mannes allein mit all diesen Leichen zurückbleiben würde, mit dem Blut, das durch die Falltür auf meine Schuhe gespritzt war und damit bewies, daß ich die Klappe angehoben hatte. Wer würde meine Geschichte von einem Mann glauben, den ich nicht richtig gesehen hatte, den niemand kannte, der vielleicht unauffindbar bleiben würde? Handwerksgeselle, dévoirant, das ist schnell dahingesagt. Papiere kann man fälschen. Zu der Zeit gab es in Frankreich genug compagnons du devoir, die durch das Land zogen, ohne ihre devoirs, ihre Pflichten, sonderlich ernst zu nehmen. Es waren Schürzenjäger, fidele, aufdringliche Burschen, die sich fünfzehn Jahre Zeit ließen, um mehr schlecht als recht ein Handwerk zu erlernen, und die alle Welt für sich in die Pflicht nahmen. Sie fielen mit der Tür ins Haus, ohne Anmeldung, ausgehungert und erschöpft. Ein dévoirant – was immer man sonst behauptet haben mag – wurde von den Gendarmen und den Justizbehörden häufig schief

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