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Das ermordete Haus

Das ermordete Haus

Titel: Das ermordete Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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unter, und so konnte Burle sie nicht hören. Séraphin wiederholte sie nicht.
    »Wie sie so dalag, mit hochgeschobenen Röcken …« sprach der Alte weiter, »also wir haben alle weggeschaut. Wie gesagt, wir waren wohl etwa fünfzig, aber die arme Frau, die da unseren Blicken ausgeliefert war, wir konnten einfach nicht, hatten nicht die Kraft …, und trotzdem, das war ja nicht zu übersehen, das mußt du wissen … sie hatte ja gestillt. Also war ihr Mieder geöffnet, und man sah ihre Brüste … Und auf ihrer Brustwarze, da war noch ein Tropfen geronnener Milch …«
    »Das reicht!« schrie Séraphin. Wiederum begleitete der Donner seine Worte, doch diesmal übertönte er seine Stimme nicht.
    »Du wolltest es doch wissen!« sagte Burle begütigend und zuckte mit den Schultern. Er schüttelte sich. »Und schließlich«, rief er aus, »dort neben der Truhe, neben dem Schrank, da lagst du! In dieser Wiege da!« Er gab dem kleinen Möbel einen Schubs mit dem Fuß, und sofort begann die Wiege auf ihren Kufen sacht zu schnurren, als ob man noch das Kindchen schaukelte, das darin gelegen hatte.
    »Da warst du!« wiederholte Burle mit hängenden Schultern.
    Er betrachtete Séraphin, der ein Scheit ins Feuer legte, um sein Gesicht zu verbergen. Er betrachtete die kleine Wiege, die immer langsamer wurde und schließlich stillstand. Ein ungläubiger Ausdruck malte sich auf seinen Zügen, wie er dort wohl schon vor dreiundzwanzig Jahren erschienen war.
    »Man weiß nicht, ob sie dich übersehen haben! Sicher, da waren die Decken, in die dich deine Mutter gewickelt hatte, die waren dir über das Gesicht gerutscht. Ganz nebenbei, auch die waren von oben bis unten mit Blut bespritzt. Aber trotzdem! Man konnte dich sehen! Und außerdem hast du bestimmt gebrüllt! Wer soll daraus schlau werden … Ob sie dich nicht gesehen haben, ob sie dich verschonen wollten? Sicher ist nur, daß du der einzige Überlebende warst!«
    Er ging zum Kamin zurück und ließ sich in den Großvatersessel sinken. Dieses Mal kam es ihm nicht mehr so vor, als ob da noch jemand säße.
    »Wenn du das gesehen hättest«, sagte er. »Und das Schlimmste ist: Du hast es gesehen! Da war eine Nachbarin – die gute Seele –, die hat dich bei der Beerdigung deiner Familie hinter dem Leichenzug her getragen … Das gab ein fürchterliches Aufsehen – bis nach Paris! An die zweitausend Leute waren da … Selbst die, die deinen Vater nicht mochten, und das waren bei Gott nicht wenige … Berittene Gendarmen, die sich umhörten, rumspionierten und jedem erzählten, daß Mörder immer zur Beerdigung ihrer Opfer gingen. So eine Beerdigung, mein armer Junge, hatte man in ganz Lurs noch nicht gesehen! Sie hatten sich den Leichenwagen aus Les Mées und den von Peyruis ausgeliehen, und deine beiden Brüder brachten sie auf den comètes, den Kindertotenwägelchen, zum Friedhof. Drei große Leichenwagen und zwei kleine! Und dann die Nachbarin, ganz in Schwarz und ganz allein folgte sie diesem ganzen Totentanz und hat dich getragen, dich, ganz in Weiß und so winzig, und geschrien hast du! Das einzige, was man hörte, wenn der Pfarrer mal gerade nicht gesungen hat. Geschrien hast du, als ob du gewußt hättest, was passiert ist!«
    Séraphin erhob sich aus seinem Stuhl, und Burle sah ihn vor sich aufragen, riesengroß.
    »Ja und …« sagte er.
    »Setz dich hin, setz dich nur wieder hin«, rief Burle eilig, »mir wird schwindlig! Und vorher drehst du noch die Hemden und die Hosen um, damit sie auch von der anderen Seite trocknen. Gut so, das reicht! Ich weiß, was du mir sagen wolltest. Klar hat man sie schließlich geschnappt, die Mörder. Drei Männer sollen es gewesen sein, die an der Bahnlinie arbeiteten, die damals gerade bis hierher reichte. Angeblich hat man sie völlig besoffen mit vier angebrochenen Flaschen Schnaps von deinem Vater auf ihren Pritschen gefunden. Es hieß, sie kamen aus irgend so einem Land, ich glaube, es heißt Herzegowina. Die sprachen kaum drei Brocken Französisch. Bis man für die einen Dolmetscher gefunden hatte, das war wie eine Stecknadel im Heuhaufen suchen. Na ja, und dann, ihre Latschen waren voller Blut. Die Fußspuren, die man auf den Fliesen in La Burlière entdeckt hatte, paßten genau zu ihrer Größe! Sie hatten Blut an ihren genagelten Sohlen, Blut an ihren Samthosen … Da gab es nichts zu deuteln …« Er spuckte einen Strahl Tabaksaft geradewegs ins Feuer.
    »Weißt du«, setzte er hinzu, »wenn man bei uns den zwölf

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