Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das ermordete Haus

Das ermordete Haus

Titel: Das ermordete Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
Vom Netzwerk:
vermeiden ließ, wenn dieser Gaspard also schon so leicht hereinzulegen war, dann konnte ihm, Célestat, dergleichen erst recht passieren – auf die eine oder andere Weise.
    Im übrigen war da etwas. Er hatte niemandem davon erzählt, schon gar nicht Clorinde, die sich ausgeschüttet hätte vor Lachen, aber seit mehr als einem Monat schlich ihm jemand hinterher, wenn er gegen vier Uhr das Backhaus verließ. Schlau und wendig war er, dieser Jemand. Er folgte ihm so dicht, daß, wenn er sich umdrehte, um seinen Verfolger zu überraschen, dieser seine Bewegungen vorausahnte und sich mit ihm umdrehte, als ob er ein Teil seines Körpers wäre, als ob er ihn auf dem Buckel trüge. Einige Male schien es ihm auf dieser holprigen Gasse in Lurs, als habe er zwischen den Zinnen der verfallenen Mauer, die den Ort umgab, einen Schatten gesehen – er hatte ihn gesehen –, der hinter den Holunderschößlingen verschwand, die aus den Mauerresten hervorsprossen.
    »Eigentlich ist es zum Lachen«, sagte Célestat zu sich, »wenn die Leute von längst vergessenen Zeiten daherreden. Das ist alles so lange her, heißt es dann. Aber manchmal zieht man das Vergangene hinter sich her, ohne es zu merken. Man dreht sich um und sagt sich: Nanu, den gibt’s noch! Manchmal, da bedroht uns das, was sich vor fünfundzwanzig Jahren ereignet hat, viel unmittelbarer als der Krieg, in dem wir uns befinden, oder der Pickel, den wir beim Rasieren betasten und aus dem wohl einmal eine Krebsgeschwulst werden wird, aber erst in zwanzig Jahren! Wer hätte zum Beispiel gedacht, daß dieser Séraphin Monge nach dem Krieg wieder hierher zurückkommen würde, wo doch so viele gefallen waren, und vor allem, daß er auf die seltsame Idee verfallen würde, La Burlière abzureißen? Wer hätte gedacht, daß Gaspard Dupin trotz seiner allseits bekannten Vorsichtsmaßnahmen es fertigbringen würde, auf schwarzer Schmierseife auszurutschen? Daß man vielleicht binnen kurzem an einen dummen Unfall glauben würde?« Über all das mußte man erst einmal nachdenken! Das Gewehr zu Hause zu lassen aus Angst, sich lächerlich zu machen, war ja schön und gut. Aber wenn man ihn, Célestat, eines Tages zwischen Backhaus und Bäckerladen tot auffände – Todesursache unbekannt –, würden dann die um seine Leiche versammelten Spötter nicht vielleicht sagen: »Hätte er doch lieber sein Gewehr mitgenommen!«? Wenn der Fall erst einmal eingetreten wäre, würde das alles keineswegs mehr lächerlich aussehen.
    Am Ende dieses Selbstgesprächs griff Célestat entschlossen zur Waffe, hängte sie sich um, klemmte sich das Paket mit dem Vorteig unter den Arm und stieg die zwei Stufen empor, die zur Straße führten. Im selben Augenblick schob Clorinde den Perlenvorhang zur Seite und trat ein. »Ojemine, was hast denn du vor?« fragte sie.
    »Na was wohl? Den Teig kneten, was denn sonst?«
    »Seit wann brauchst du dein Gewehr zum Teigkneten? Bist du plemplem?«
    »Gaspard Dupin ist tot«, sagte Célestat.
    »Na und?«
    »Na und! Du kannst sagen, was du willst, von jetzt an nehme ich das Gewehr mit.«
    Sie zuckte die Schultern, gähnte, nahm die Gewichte von der Waage und sah auf die Standuhr mit dem Westminstergeläut. Gleich würde es acht Uhr schlagen. Sie konnte die Abrechnung machen. Plötzlich fuhr ihr ein anderer Gedanke durch den Kopf. »Um Himmels willen! Acht Uhr, und das Kind ist noch nicht zurück!« In ihrer langen Unterhaltung mit der Nachbarin über das Verbrechen von Pontradieu, das ein bißchen Abwechslung in den eintönigen Alltag brachte, hatte sie Marie völlig vergessen.
    Die Tricanote, die eben Célestat mit dem Gewehr hatte vorbeikommen sehen, sah nun Clorinde auf ihren Plattfüßen heraneilen, so schnell ihre kurzen Beine sie tragen wollten.
    »Clorinde! Was hast du denn?«
    »Ich bin außer mir«, rief Clorinde, ohne sich umzudrehen.
    »Das Kind ist noch nicht zurück!«
    Die Tricanote, die ganz versessen auf Familientragödien war, heftete sich Clorinde an die Fersen. Zu zweit lehnten sie sich über die Brüstung der Mauer. Und schon sahen sie, wie Maries Dreirad in der zunehmenden Dunkelheit die steile Straße nach Lurs heraufkam.
    »Bestimmt war sie wieder bei ihrem Séraphin«, bemerkte die Tricanote.
    »Bestimmt«, seufzte Clorinde, »dieser Straßenarbeiter bringt mich noch um.«
    Nein. Marie war nicht bei Séraphin gewesen. Das heißt, wenn sie je gehofft hatte, ihn zu sehen, war sie enttäuscht worden, denn Séraphin arbeitete an diesem Tag nicht

Weitere Kostenlose Bücher