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Das erste Buch der Traeume

Das erste Buch der Traeume

Titel: Das erste Buch der Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Gier
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das schlechte Gewissen deutlich ins Gesicht geschrieben.
    Hinter ihr näherte sich ein Mann mit einem leeren Gepäckwagen, und ohne genau hinzusehen, wusste ich, wer das war: die Planänderung höchstpersönlich.
    »Ich hasse Planänderungen«, murmelte Mia.
    Mum lächelte immer noch angestrengt. »Diese hier werdet ihr lieben«, log sie. »Willkommen in London, der aufregendsten Stadt der Welt.«
    »Willkommen zu Hause«, ergänzte Mr Planänderung mit warmer, tiefer Stimme und hievte unsere Koffer in den Gepäckwagen.
    Ich hasste Planänderungen auch, und zwar aus tiefstem Herzen.

2.
    In unserer ersten Nacht in London träumte ich von Hänsel und Gretel, genauer gesagt: Mia und ich waren Hänsel und Gretel, und Mum setzte uns im Wald aus. »Es ist nur zu eurem Besten!«, sagte sie, bevor sie zwischen den Bäumen verschwand. Der arme kleine Hänsel und ich irrten hilflos umher, bis wir an ein unheimliches Lebkuchenhaus kamen. Glücklicherweise wurde ich wach, bevor die böse Hexe herauskam, aber ich war nur eine Sekunde lang erleichtert, dann fiel mir wieder ein, dass der Traum gar nicht so weit von der Wirklichkeit entfernt war. Den Satz »Es ist nur zu eurem Besten!« hatte Mum gestern ungefähr siebzehnmal gesagt. Ich war auch jetzt noch so wütend auf sie, dass ich am liebsten ununterbrochen mit den Zähnen geknirscht hätte.
    Mir war schon klar, dass auch Menschen über vierzig noch ein Anrecht auf ein erfülltes Liebesleben haben, aber hätte sie damit nicht warten können, bis wir erwachsen waren? Auf die paar Jahre kam es doch jetzt auch nicht mehr an. Und wenn sie schon unbedingt mit Mr Planänderung zusammen sein wollte, reichte es da nicht, eine Wochenendbeziehung zu führen? Musste sie gleich unser ganzes Leben auf den Kopf stellen? Konnte sie nicht wenigstens fragen?
    In Wirklichkeit hieß Mr Planänderung übrigens Ernest Spencer, und er hatte uns gestern Abend mit seinem Wagen hierher kutschiert und die ganze Fahrt über so ungezwungen Konversation betrieben, als würde er gar nicht merken, dass Mia und ich vor Enttäuschung und Wut mit den Tränen kämpften und kein Wort sagten. (Es war eine recht lange Fahrt vom Flughafen in die Stadt.) Erst als Ernest das Gepäck aus dem Kofferraum holte, zuletzt die Plastiktüte mit dem Käse, fand Mia ihre Stimme wieder.
    »Nein, nein«, sagte sie mit ihrem allersüßesten Lächeln und gab ihm die Käsetüte zurück. »Das ist für Sie. Ein Mitbringsel aus der Schweiz.«
    Ernest tauschte einen hocherfreuten Blick mit Mum. »Danke, das ist aber lieb von euch!«
    Mia und ich grinsten einander schadenfroh an – aber das war auch schon der einzige schöne Moment des Abends. Ernest fuhr mit seinem stinkenden, zerstückelten Käse nach Hause, nachdem er Mum geküsst und uns zum Abschied versichert hatte, wie sehr er sich auf morgen Abend freuen würde. Da waren wir nämlich bei ihm zu Hause eingeladen, um seine Kinder kennenzulernen.
    »Wir freuen uns auch«, sagte Mum.
    Sicher doch.
    Uns war Ernest mein-Charakter-entspricht-exakt-meinem-stinkkonservativen-Vornamen Spencer gleich suspekt gewesen, als er das erste Mal über die Türschwelle getreten war. Schon seine Geschenke zeugten davon, wie ernst er es mit Mum meinte – normalerweise haben die Männer in Mums Leben kein Interesse daran, sich bei uns einzuschleimen, im Gegenteil, bisher hatten sie immer versucht, unsere Existenz so gut es ging zu ignorieren. Aber Ernest brachte nicht nur Mum Blumen mit, sondern überreichte Lottie ihre Lieblingspralinen und mir ein Buch über Geheimbotschaften, Codes und ihre Entschlüsselungen, das ich tatsächlich hochinteressant fand. Nur bei Mia lag er ein bisschen daneben, für sie hatte er ein Buch mit dem Titel »Maureen, die kleine Detektivin« ausgesucht, für das sie mit fast dreizehn doch ein paar Jahre zu alt war. Aber allein die Tatsache, dass Ernest sich nach unseren Interessensgebieten erkundigt hatte, machte ihn verdächtig.
    Mum war jedenfalls hin und weg von ihm. Keine Ahnung, warum. Am Aussehen konnte es schon mal nicht liegen, Ernest hatte eine Vollglatze, riesengroße Ohren und viel zu weiße Zähne. Lottie behauptete zwar hartnäckig, Ernest sei trotzdem ein gutaussehender Mann, aber diese Meinung konnten wir leider nicht teilen. Mochte ja sein, dass er schöne Augen hatte, aber wer konnte ihm bei diesen Ohren schon in die Augen sehen? Abgesehen davon war er uralt, über fünfzig. Seine Frau war vor mehr als zehn Jahren gestorben, und er lebte mit seinen zwei

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