Das erste Buch der Traeume
Hände. Was der hübsche dunkelhaarige Junge tat, wollte ich lieber gar nicht wissen. Wahrscheinlich war er einfach nur heilfroh, dass ich ihn nicht nach seiner Handynummer gefragt hatte.
»Das nenne ich mal ein wirklich geniales Versteck für Drogen«, sagte jemand hinter uns, und ich sah zu Mia hinüber und seufzte schwer. Mia seufzte ebenfalls. Wir hatten es wirklich eilig.
Dabei war es äußerst naiv von uns zu denken, nur der Käse stünde noch zwischen uns und unserem wunderbaren neuen Leben – in Wirklichkeit verlängerte der Käse lediglich den Zeitraum, in dem wir felsenfest glaubten, ein wunderbares neues Leben vor uns zu haben.
Andere Mädchen träumen vermutlich von anderen Dingen, aber Mia und ich wünschten uns nichts sehnlicher als ein richtiges Zuhause. Für länger als nur ein Jahr. Und mit einem eigenen Zimmer für jede von uns.
Das hier war unser sechster Umzug in acht Jahren, das bedeutete: sechs verschiedene Länder auf vier verschiedenen Kontinenten, sechsmal neu an einer Schule anfangen, sechsmal neue Freundschaften schließen und sechsmal »auf Wiedersehen« sagen. Wir waren Profis im Ein- und Auspacken, beschränkten unseren persönlichen Besitz stets auf ein Minimum, und es ist wohl leicht zu erraten, warum niemand von uns Klavier spielte.
Mum war Literaturwissenschaftlerin (eine mit zwei Doktortiteln), und beinahe jedes Jahr nahm sie einen Lehrauftrag an einer anderen Universität an. Bis Juni hatten wir noch in Pretoria gelebt, davor in Utrecht, Berkeley, Hyderabad, Edinburgh und München. Unsere Eltern hatten sich vor sieben Jahren getrennt. Papa war Ingenieur und ähnlich ruhelos veranlagt wie Mum, das heißt, er wechselte seinen Wohnsitz genauso oft. Wir durften also nicht mal unsere Sommerferien an ein und demselben Ort verbringen, sondern immer dort, wo Papa gerade arbeitete. Im Moment arbeitete er in Zürich, weshalb diese Ferien vergleichsweise herrlich gewesen waren (inklusive diverser Bergtouren und eines Besuchs im Biosphärenreservat Entlebuch), aber leider waren nicht alle Orte, an die es ihn schon verschlagen hatte, so schön. Lottie sagte manchmal, wir sollten dankbar sein, dass wir durch unsere Eltern so viel von der Welt kennenlernen würden, nur, ganz ehrlich, wenn man mal einen Sommer am Rande eines Industriegebietes in Bratislava zugebracht hat, hält sich die Dankbarkeit doch sehr in Grenzen.
Ab diesem Herbsttrimester nun unterrichtete Mum am Magdalen College in Oxford, und damit war ein großer Wunsch von ihr in Erfüllung gegangen. Sie träumte schon seit Jahrzehnten von einem Lehrauftrag in Oxford. Mit dem kleinen Cottage aus dem 18. Jahrhundert, das sie etwas außerhalb gemietet hatte, war auch ein Traum von uns in Erfüllung gegangen. Wir würden endlich sesshaft werden und ein richtiges Zuhause haben. Im Maklerexposé hatte das Haus romantisch und gemütlich ausgesehen und so, als steckte es vom Keller bis zum Dachboden voller wunderbarer gruseliger Geheimnisse. Es gab einen großen Garten mit alten Bäumen und einer Scheune, und von den Zimmern im ersten Stock hatte man – zumindest im Winter – einen Blick bis hinunter zur Themse. Lottie hatte vor, dort Beete für Gemüse anzulegen, Marmelade selber zu kochen und Mitglied bei den Landfrauen zu werden, Mia wollte ein Baumhaus bauen, ein Ruderboot anschaffen und eine Eule zähmen, und ich träumte davon, auf dem Dachboden eine Kiste mit alten Briefen zu finden und den Geheimnissen des Hauses auf den Grund zu gehen. Außerdem wollten wir unbedingt eine Schaukel in die Bäume hängen, am besten ein rostiges Eisenbett, in dem man liegen und in den Himmel schauen konnte. Und mindestens jeden zweiten Tag würden wir ein echtes englisches Picknick veranstalten, und das Haus würde nach Lotties selbstgebackenen Keksen duften. Und vielleicht nach Käsefondue, denn unseren guten Entlebucher Biosphärenkäse zerlegten die Zollmenschen vor unseren Augen in so winzig kleine Stückchen, dass man nichts anderes mehr mit ihm anfangen konnte.
Als wir endlich in die Halle hinauskamen – es verstieß übrigens gegen kein Gesetz, kiloweise Käse zum Eigengebrauch nach Großbritannien einzuführen, nur als Geschenk für Lottie machte er jetzt nicht mehr viel her – brauchte Mum weniger als eine Minute, um unseren Traum vom englischen Landleben zerplatzen zu lassen wie eine Seifenblase.
»Es gibt eine kleine Planänderung, ihr Mäuse«, sagte sie nach der Begrüßung, und obwohl sie dabei strahlend lächelte, stand ihr
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