Das erste Buch der Traeume
nichts.
»Ja, das behauptet Mr Spencer«, sagte Mia. (Wir sollten ihn beim Vornamen nennen, aber wir taten immer so, als hätten wir das vergessen.)
»Eure Mutter hat die Ratte mit eigenen Augen gesehen«, sagte Lottie. »Möchtet ihr wirklich in einem Haus mit Ratten leben?«
»Ja«, erwiderten Mia und ich gleichzeitig. Erstens waren Ratten besser als ihr Image (das wusste man ja spätestens seit »Ratatouille«), und zweitens war das mit der Ratte unter Garantie genauso frei erfunden wie der Rest. Ganz doof waren wir ja nicht – wir wussten genau, was hier gespielt wurde. Mum hatte gestern Abend ein klitzekleines bisschen zu dick aufgetragen, um uns zu überzeugen. Angeblich habe es in unserem Traumcottage nach Schimmel gerochen, die Heizung habe nicht richtig funktioniert, in den Kaminen hätten Krähen genistet, die Nachbarn seien lärmende Proleten gewesen und die Umgebung trostlos. Außerdem seien die Verkehrsanbindungen ungünstig, und die Schule, an der wir ursprünglich angemeldet gewesen waren, habe einen ganz schlechten Ruf. Deshalb, sagte Mum, sei sie gezwungen gewesen, den Mietvertrag wieder zu kündigen und diese Wohnung hier anzumieten – vorübergehend, natürlich. (Wie alles, wo wir bisher drin gewohnt hatten.)
Ja, gut, gab Mum zu, das war alles hinter unserem Rücken passiert, aber doch nur, weil sie uns die Ferien bei Papa nicht hatte verderben wollen. Überhaupt, sagte sie, wollte sie ja nur das Beste für uns – sie würde jeden Tag nach Oxford pendeln, damit wir hier in eine exzellente Schule gehen konnten, und – »mal ehrlich, ihr Mäuse!« – war es denn nicht cooler, in London zu wohnen, als da draußen auf dem Land?
Selbstverständlich hatte das Ganze nicht im Geringsten etwas damit zu tun, dass Mr Ernest ich-weiß-was-gut-für-euch-ist Spencer zufällig auch in diesem Teil von London lebte und Mum möglichst nahe bei sich haben wollte. Und die Schule, auf die wir nun gingen, war auch nur ganz zufällig dieselbe Schule, auf die auch Ernests Kinder gingen. Die wir ja heute genauso zufällig bei diesem Abendessen in Ernests Haus kennenlernen sollten.
Da bahnte sich eine Katastrophe an, so viel war klar. Das Ende einer Ära.
»Mir ist schlecht«, sagte ich.
»Ihr seid nur aufgeregt.« Mit der einen Hand streichelte Lottie beruhigend über Mias Schulter, während sie mir mit der anderen eine Haarsträhne hinter das Ohr strich. »Das ist auch völlig normal am ersten Schultag in einer neuen Schule. Aber ihr könnt mir glauben: Es gibt für euch absolut keinen Grund für Minderwertigkeitsgefühle. Ihr seht beide sehr, sehr hübsch aus, und schlau, wie ihr seid, müsst ihr euch auch keine Sorgen machen, dass ihr im Unterricht nicht mitkommt.« Liebevoll lächelte sie uns an. »Meine einmalig klugen, wunderschönen, blonden Elfenmädchen.«
»Ja, einmalig kluge, wunderschöne, blonde Elfenmädchen mit Zahnspange und Nerdbrille und viel zu langer Nase«, murrte Mia, ohne sich darum zu kümmern, dass Lotties braune Kulleraugen vor lauter Rührung ein wenig feucht geworden waren. »Und ohne festen Wohnsitz.«
Dafür mit einer durchgeknallten Mutter, dem wohl dienstältesten Au-pair-Mädchen der Welt und einem Scherbenhaufen voller geplatzter Landlebenträume, ergänzte ich in Gedanken, aber ich konnte nicht anders, als Lotties Lächeln zu erwidern, sie war einfach zu süß, wie sie dastand und uns voller Besitzerstolz und Optimismus anstrahlte. Außerdem war es ja nicht ihre Schuld.
»Die Zahnspange musst du nur noch ein halbes Jahr tragen. Das hältst du auch noch durch, Mia-Maus.« Meine Mutter war von nebenan hereingekommen. Wie immer hatte sie nur den Teil gehört, den sie hören wollte. »Hübsche Schuluniformen sind das aber.« Sie schenkte uns ein sonniges Lächeln und fing an, in einem Umzugskarton mit der Aufschrift »Schuhe« herumzuwühlen.
Klar, dass Mums Schuhe mit in diese Spießer-Bude gezogen waren, während meine Bücherkisten in irgendeinem Speditionscontainer vor sich hin gammelten, zusammen mit meinen geheimen Notizheften und dem Gitarrenkoffer.
Böse starrte ich auf Mums schmalen Rücken. Dass Mr Spencer von ihr hingerissen war, konnte man durchaus verstehen. Für eine Literaturprofessorin sah sie nämlich wirklich gut aus, naturblond, langbeinig, blauäugig, mit tollen Zähnen. Sie war sechsundvierzig, was man aber nur im hellen Morgenlicht sah, wenn sie am Abend vorher zu viel Rotwein getrunken hatte. An guten Tagen sah sie aus wie Gwyneth Paltrow. Allerdings
Weitere Kostenlose Bücher