Das erste Buch der Traeume
Kindern in London. Die Geschichte stimmte, Mia (die kleine Detektivin) und ich hatten das sofort bei Google überprüft. Google kannte Ernest Spencer, weil er einer dieser Star-Anwälte war, die ihr Gesicht in jede Kamera hielten, egal ob vor einem Gerichtsgebäude oder auf dem roten Teppich einer Charity-Gala. Und seine verstorbene Frau hatte Rang 201 (oder so) in der englischen Thronfolge innegehabt, weshalb er in den allerhöchsten gesellschaftlichen Kreisen verkehrte. Seinen Beziehungen war es auch zu verdanken, dass Mum in Oxford unterrichten konnte.
Nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung wären Ernest und Mum sich niemals über den Weg gelaufen. Aber das gemeine Schicksal und Ernests Fachgebiet – internationales Wirtschaftsrecht – hatten ihn vor einem halben Jahr nach Pretoria geführt, wo er und Mum sich auf einer Party kennengelernt hatten. Und wir hatten sie noch ermutigt, auf diese Party zu gehen, wir Dummköpfe. Damit sie mal unter Leute kam.
Und jetzt hatten wir den Salat.
»Halt still, Herzchen!« Lottie zog und zerrte an meinem Rock herum, allerdings vergeblich. Er blieb eine Handbreit zu kurz.
Lottie Wastlhuber war vor zwölf Jahren als Au-pair-Mädchen zu uns gekommen und einfach geblieben. Zu unserem Glück. Wir wären sonst ausschließlich mit Sandwiches ernährt worden, denn Mum vergaß das Essen meistens, und sie hasste Kochen. Ohne Lottie hätte uns niemand ulkige Gretel-Frisuren geflochten, Puppengeburtstage gefeiert oder mit uns Weihnachtsbaumschmuck gebastelt. Ja, wahrscheinlich hätten wir nicht mal einen Weihnachtsbaum gehabt, Mum hatte es nämlich auch nicht so mit Traditionen und Bräuchen. Außerdem war sie schrecklich vergesslich, da erfüllte sie voll und ganz das Klischee vom zerstreuten Professor. Sie vergaß einfach alles: Mia vom Flötenunterricht abzuholen, den Namen unseres Hundes oder wo sie den Wagen geparkt hatte. Ohne Lottie wären wir alle verloren gewesen.
Unfehlbar war Lottie allerdings auch nicht. Wie jedes Jahr hatte sie meine Schuluniform eine Nummer zu klein gekauft, und wie jedes Jahr wollte sie mir die Schuld dafür in die Schuhe schieben.
»Ich verstehe nicht, wie ein Mensch in einem einzigen Sommer so viel wachsen kann«, jammerte sie und versuchte, die Jacke über meiner Brust zuzuknöpfen. »Und dann auch noch … oben herum! Das hast du doch mit Absicht gemacht!«
»Ja, klar!« Obwohl ich denkbar schlecht gelaunt war, musste ich grinsen. Lottie hätte sich ruhig ein bisschen für mich freuen können. »Oben herum« war zwar immer noch nicht beeindruckend für eine fast Sechzehnjährige, aber wenigstens war ich jetzt nicht mehr flach wie ein Brett. Deshalb fand ich es auch gar nicht so schlimm, die Jacke offen lassen zu müssen. Es wirkte zusammen mit dem zu kurzen Rock ziemlich lässig, beinahe so, als wollte ich absichtlich möglichst viel von meiner Figur zeigen.
»Bei Liv sieht es viel besser aus«, beschwerte sich Mia, die schon fix und fertig angezogen war. »Warum hast du meine Schuluniform nicht auch eine Nummer zu klein gekauft, Lottie? Und warum sind Schuluniformen überall immer nur dunkelblau? Und warum heißen die Frognal Academy und haben nicht mal einen Frosch im Wappen?« Missmutig strich sie über das gestickte Emblem auf ihrer Brusttasche. »Ich sehe doof aus. Überhaupt ist hier alles doof.« Sie drehte sich langsam um ihre eigene Achse, zeigte auf die fremden Möbelstücke ringsherum und sagte dabei mit extra lauter Stimme: »Doof. Doof. Doof. Stimmt’s, Livvy? Wir hatten uns so auf das Cottage in Oxford gefreut. Stattdessen sind wir hier gelandet …«
»Hier« – das war die Wohnung, vor der uns Ernest gestern Abend abgesetzt hatte, im dritten Stock eines noblen Mehrfamilienhauses, irgendwo im Nordwesten von London, mit vier Schlafzimmern, glänzenden Marmorböden und lauter Möbeln und Gegenständen, die nicht uns gehörten. (Die meisten davon waren vergoldet, sogar die Sofakissen.) Laut Klingelschild wohnten hier eigentlich Leute mit dem Namen »Finchley«, und die sammelten augenscheinlich Ballerinen aus Porzellan. Sie waren einfach überall.
Ich nickte also zustimmend. »Nicht mal unsere wichtigsten Sachen sind hier«, sagte ich ebenfalls lauthals.
»Pssssst«, machte Lottie und warf einen besorgten Blick über ihre Schulter. »Ihr wisst genau, dass das nur vorübergehend ist. Und dass das Cottage eine Katastrophe war.« Sie hatte es aufgegeben, an meiner Kleidung herumzuzupfen, es half ja ohnehin
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