Das erste Buch der Traeume
Schüler, Ball zu spielen. Mit einer Pampelmuse. »Es ist ein Traditionsball zur Erinnerung an das Gründungsjahr dieser Schule. Alle müssen in viktorianischen Kostümen erscheinen. Ich werde natürlich hingehen.« Persephone zog sich die Lippen nach. Zuerst wollte ich sie bewundern, weil sie das ohne Spiegel konnte, aber dann sah ich, dass es sich um einen farblosen Lippenstift handelte, den sie bedenkenlos bis zu ihrer Nase verschmieren konnte. »Mit einem Freund meiner Schwester. Sie ist im Ballkomitee. He, ihr Idioten, lasst das gefälligst.« Die Pampelmuse war haarscharf über ihren Kopf gezischt. Eigentlich schade.
»Aber es gibt eine Weihnachtsparty für alle Klassen«, setzte Persephone gönnerhaft hinzu. »Da kannst du dann mit deiner kleinen Schwe…« An dieser Stelle hörte sie auf zu sprechen, mehr noch, sie hörte auch auf zu atmen. Sie starrte einfach nur an mir vorbei, wie ein zu Stein gewordenes Äffchen mit gezücktem Lipgloss.
Ich drehte mich um, um nach der Ursache für ihren Atemstillstand zu suchen. Ein Ufo war jedenfalls nicht gelandet. Dafür aber eine Gruppe älterer Schüler, die sich ähnlich auffällig aus der Menge abhoben. Es waren vier Jungs, und fast jeder in diesem Korridor schien sie anzustarren. Vielleicht, weil sie zwar lässig in ein Gespräch vertieft daherschlenderten, aber trotzdem im Gleichschritt gingen, wie im Takt zu einer Musik, die nur sie hören konnten. Eigentlich fehlte nur noch die Zeitlupe und eine Windmaschine, die ihnen die Haare aus dem Gesicht blies. Sie kamen geradewegs auf uns zu, und ich überlegte, welcher von ihnen Persephone wohl in eine Salzsäule verwandelt hatte. Wie ich das auf die Schnelle überblicken konnte, hatte jeder von ihnen das Zeug dazu, vorausgesetzt, sie stand auf große, blonde, sportliche Typen. (Was ich nicht tat – ich hatte ein Faible für dunkelhaarige, grüblerisch veranlagte Jungs, die Gedichte lasen und Saxophon spielten und gerne Sherlock-Holmes-Filme anschauten. Leider hatte ich davon bisher noch nicht viele getroffen. Na gut: Ich hatte noch keinen getroffen. Aber irgendwo da draußen musste es sie doch geben!) Am auffälligsten gutaussehend war der zweite von links, mit goldblonden Locken, die ein ebenmäßiges, engelsgleiches Gesicht umrahmten. Auch ganz aus der Nähe wirkte sein Teint wie aus Porzellan, ohne jede Pore, geradezu unnatürlich perfekt. Neben ihm sahen die anderen drei dann doch eher normal aus.
Persephone gab ein heiseres Röcheln von sich. »Hi, Japskrch.«
Sie bekam keine Antwort, die Jungs waren viel zu sehr in ihre Unterhaltung vertieft, um uns eines Blickes zu würdigen. Vermutlich hieß auch keiner von ihnen Japskrch.
Wieder kam die Pampelmuse geflogen, und ganz bestimmt wäre sie Salzsäulen-Persephone direkt gegen die Nase gedonnert, wenn ich nicht vorgeschnellt wäre, um sie aufzufangen. Es war mehr ein Reflex als eine überlegte gute Tat, wenn ich ehrlich bin, und dummerweise hatte einer von den Typen aus dem Club der lässigen Blondinen (der ganz links) die gleiche Idee beziehungsweise den gleichen Reflex, weswegen wir im Sprung mit den Schultern aneinanderrempelten. Die Pampelmuse landete aber in meiner Hand.
Der Junge sah auf mich herunter. »Nicht schlecht«, sagte er anerkennend, während er seinen hochgerutschten Ärmel wieder zurechtzupfte. Nicht schnell genug für mich. Ich hatte die Wörter gelesen, die auf der Innenseite seines Handgelenks eintätowiert waren: numen noctis .
Er grinste mich an. »Basketball oder Handball?«
»Weder noch. Ich hatte nur Hunger.«
»Ach so.« Er lachte, und gerade wollte ich meinen bevorzugten Typ noch einmal überdenken und zugunsten großer, tätowierter Jungs mit blasser Haut, verstrubbeltem honigblondem Haar und schiefergrauen Augen über den Haufen werfen, als er hinzusetzte: »Du bist doch das Käsemädchen vom Flughafen. Was war das noch mal für eine Sorte?«
Dann eben nicht. »Entlebucher Biosphärenkäse«, sagte ich würdevoll und rückte ein Stück von ihm ab. So gut sah er nun auch wieder nicht aus. Die Nase war zu lang, unter seinen Augen lagen dunkle Schatten, und die Haare hatten bestimmt noch nie einen Kamm gesehen. Ich erkannte ihn wieder, er war der Typ, der im Flugzeug so unnatürlich schnell eingepennt war. Jetzt wirkte er allerdings hellwach. Und äußerst amüsiert.
»Entlebucher Biosphärenkäse, richtig«, wiederholte er mit einem schadenfrohen Kichern.
Ich sah betont desinteressiert an ihm vorbei.
Der Porzellanteint-Engel
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