Das erste Buch der Traeume
Traum, dann träume ich von dir.« Und zwar einen ganz schön netten Traum. Ich lächelte zu ihm hoch. »Weißt du was? Ich hab noch nie mit einem Jungen Händchen gehalten.«
Er blieb stehen und hob ungläubig eine Augenbraue. »Wirklich nicht?«
»Nein.« Seine Stimme hatte so irritiert geklungen, dass ich schnell hinzusetzte: »Aber rumgeknutscht habe ich schon. Total oft.« Jedenfalls im Traum. Einmal – und dafür schämte ich mich heute noch – sogar mit Justin Bieber. Meine Erfahrungen in der Realität konnte ich dagegen an einer Hand abzählen. An zwei Fingern, um genau zu sein.
»Ah, da bin ich ja beruhigt«, sagte Henry spöttisch, aber ich hatte den Eindruck, er würde meine Hand ein wenig fester drücken, während wir weiterschlenderten. »Das hier fühlt sich anders an als ein normaler Traum«, sagte ich. »Es ist wie neulich auf dem Friedhof. Die ganze Zeit über weiß ich, dass es sich um einen Traum handelt. Deshalb traue ich mich auch, Sachen zu sagen, die ich sonst nicht sagen würde.«
»So etwas nennt man luzides Träumen. Wenn einem bewusst ist, dass man träumt …«
»Ich weiß, ich hab’s im Internet nachgelesen. Aber da stand nichts davon, dass andere genau denselben Traum zur selben Zeit haben können.«
»Nein, im Internet wirst du darüber nichts finden.«
»Wo denn dann? Und wie hängt das alles mit Graysons Pullover und diesen Türen zusammen? Hast du auch eine?«
»Klar.« Gemeinerweise antwortete er nur auf meine letzte Frage.
Ein paar Schritte legten wir schweigend zurück. »Ich zeige dir meine Tür, wenn du mir deine zeigst«, sagte er dann.
»Ich glaube, die da könnte meiner Mutter gehören.« Ich zeigte auf die hellgraue Ladentür, die mir vorhin schon aufgefallen war.
»Matthews’-Mondschein-Antiquariat? Die sehe ich heute zum ersten Mal. Sieht hübsch aus.«
»Es ist todsicher Mums Tür. Es steht sogar ihr Name dran. Seit der Scheidung heißt sie wieder Matthews. Und so ein Buchladen passt total gut zu ihr, aber wenn ich jetzt durch diese Tür ginge, würde ich nicht in einem Antiquariat landen, oder? Sondern in dem Traum, den meine Mutter gerade in diesem Augenblick träumt.«
»Wenn du überhaupt durch die Tür kämst …«
Ich schüttelte mich. »Bestimmt träumt sie die ganze Nacht von Ernest – igitt. Erinnere mich daran, dass ich da nie aus Versehen mal reingehe!«
Noch während ich sprach, wurde mir die Absurdität der Aussage klar, aber Henry lachte nur. »Ja, manche Träume möchte man wirklich nicht miterleben. Jaspers zum Beispiel, in seinen Träumen sind die Menschen meistens nackt …« Unvermittelt blieb er stehen. »Das ist übrigens meine Tür.«
»Ist ja lustig. Gleich gegenüber von meiner«, sagte ich. »Vorhin war da noch eine rote.«
»Ja, sie wechseln ständig ihren Platz. Das System dahinter habe ich noch nicht ganz durchschaut.«
Seine Tür war wie meine eher antik anmutend, aber höher und breiter und mit schwarzem Bootslack gestrichen. Es gab einen klassischen Türklopfer in Form eines Löwenkopfes, und in die Balken des Türsturzes waren die Worte dream on geschnitzt, worüber ich lächeln musste. Seltsam war nur, dass es statt einem Schlüsselloch gleich drei gab, übereinander.
Henry betrachtete in der Zwischenzeit meine Tür. »Sieht aus wie der Eingang zu einem Cottage in den Cotswolds«, sagte er. »Bis auf die Eidechse. Hat sie eine tiefere Bedeutung?«
»Woher soll ich das wissen?« Ich zuckte mit den Schultern. »Warum hast du so viele Schlösser?«
Er antwortete nicht sofort. »Ich bekomme eben nicht gern unangekündigten Besuch«, sagte er dann.
Ich versuchte nachzudenken, aber es war schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Vielleicht, weil Henry immer noch meine Hand hielt. »Wenn das die Eingänge zu unseren Träumen sind, warum sind wir dann hier draußen?«, fragte ich. »Und was passiert da drinnen gerade ohne uns?«
»Ich habe keine Ahnung. Ich vermute mal, ohne uns passiert da drin gar nichts. Aber sicher kann man da natürlich nicht sein. Das ist so ähnlich wie mit dem Licht im Kühlschrank …«
Das Geräusch einer ins Schloss fallenden Tür ließ uns beide zusammenfahren. Oder vielmehr auseinander. Aber es war niemand zu sehen. Der Korridor war leer.
»Wir gehen jetzt besser nach Hause und … äh … schlafen noch ein bisschen.« Henry grinste schief. Er hatte meine Hand losgelassen und kramte drei Schlüssel aus seiner Hosentasche.
»Warum flüsterst du? Hier ist doch niemand.« Ich starrte wieder
Weitere Kostenlose Bücher