Das erste Buch der Traeume
das war eindeutig Henry, der mir da zuwinkte. »Grayson? Kann es sein, dass Henry einen Zwillingsbruder hat?«
Aber Grayson hatte erneut den Kopf in seinem Handtuch vergraben und hörte mich nicht. Oder er tat zumindest so.
Ich schaute noch einmal zwischen dem Henry im Basketballtrikot und dem Henry, der in Jeans und T-Shirt von der anderen Seite zielstrebig auf mich zukam, hin und her, dann zuckte ich mit den Schultern. Es war eben ein Traum, da durfte man nicht alles so genau nehmen.
»Entschuldigung – könnt ihr mal ein bisschen rücken? Danke.« Henry drängelte sich in die zweite Reihe und setzte sich direkt hinter mich. »Hi, Käsemädchen. Gutes Spiel?«
»Wie man’s nimmt. Ihr verliert«, sagte ich, so als wäre es ganz normal, dass es zwei von seiner Sorte gab. »Und hör endlich auf, mich Käsemädchen zu nennen.«
Henry beobachtete, wie sein Alter Ego einen Drei-Punkte-Wurf im Korb versenkte, und pfiff anerkennend durch die Zähne. »Ich spiele aber nicht schlecht!« Er beugte sich so weit nach vorne, dass sein Kopf fast auf einer Höhe mit meinem war. Ich versuchte, mich davon nicht nervös machen zu lassen. Das hier war eine gute Übung, Training für die Wirklichkeit.
»Okay, Käsemädchen. Dann sage ich ab jetzt eben Liv.« Henrys Stimme war ganz leise und tief, dicht an meinem Ohr. »Ich vermute mal, dass es Grayson war, der es verbockt hat, stimmt’s?«
Graysons Kopf tauchte aus dem Handtuch auf. Er musste Ohren wie ein Luchs haben. »Ich habe es total verbockt«, bestätigte er. Dass es Henry zweimal gab, schien ihn nicht weiter zu stören. »Ich habe den Trainer enttäuscht und die Mannschaft und dich … und Emily und Florence und meinen Vater und … hör doch, was sie rufen!«
Die gegnerischen Fans skandierten immer noch seinen Namen. »Spencer, die Looser-Flamme, die Frognal Flames kriegen Beileidstelegramme!« Und: »Das Feuer der Flames erlischt, Looser Spencer hat’s erwischt.«
Grayson wurde ganz blass.
»Das ist aber wirklich mies gereimt«, sagte ich.
Henry nickte. »Das Versmaß stimmt hinten und vorne nicht. Idioten.«
Grayson tröstete das nicht, er versteckte sich wieder unter seinem Handtuch. Ich hatte den Verdacht, dass er darunter heimlich Tränen vergoss.
»Das träumt er leider oft«, sagte Henry mitleidig.
»Was? Dass er in ein Handtuch schnieft?«
»Dass er auf dem Basketballfeld total versagt und wir seinetwegen verlieren und sich alle von ihm abwenden.«
»Ist das denn schon mal passiert? In echt, meine ich.«
Henry schüttelte den Kopf. »Nie! Grayson ist in jedem Spiel in absoluter Bestform. Selbst mit einer Schulterprellung hat er in der letzten Saison noch weitergespielt und acht Punkte gemacht. Was tust du eigentlich hier?« Letzteres kam so unvermittelt, dass ich mir meine Antwort nicht erst gründlich überlegen konnte.
»Ich wollte mir das Spiel angucken, was sonst?« Unter seinem prüfenden Blick wurde mir ein wenig unbehaglich.
Er grinste breit. »Barfuß und im Nachthemd? Und ist das nicht wieder Graysons Pulli, den du da trägst? Ich hab ihm gesagt, er soll ihn dir wegnehmen. Bisschen groß für dich, würde ich meinen.«
»Dafür bist du zweimal hier – bisschen oft, würde ich meinen«, erwiderte ich und ahmte seinen spöttischen Tonfall nach. Aber insgeheim ärgerte ich mich. Ich hätte ja nun wirklich etwas anderes anziehen können. Das Nachthemd war alt und hässlich, und mit Graysons Kapuzenpulli darüber sah ich vermutlich aus wie aus einer Anstalt entlaufen. Allerdings konnte man das ja immer noch ändern, schließlich war das hier ein Traum. Ich kniff kurz die Augen zusammen, und als ich sie wieder öffnete, trug ich meine Lieblingsjeans, Sneaker und ein rotes T-Shirt mit der Aufschrift I am protected by three invisible Ninjas . Außerdem hatte ich Wimperntusche aufgetragen und ein bisschen Lipgloss.
Ging doch.
»Du bist wirklich gut«, sagte Henry und stand auf. »Oder ich. Je nachdem.« Er betrachtete mich mit schiefgelegtem Kopf. »Gehen wir ’ne Runde spazieren?«
»Aber wir können den armen Grayson doch nicht im Stich lassen.« Vor allem nicht jetzt, wo auch noch die Fans der Frognal Flames in die Schmähgesänge der Gegner eingestimmt hatten. »Schlecht, schlechter, Spencer!«, brüllten sie und: »Wer Grayson Spencer traut, der hat auf Sand gebaut.« Ganz oben in der letzten Reihe stand eine weißgelockte alte Dame in einem Chanel-Kostüm, die »Grayson Ernest Theodor Spencer, ich bin schwer enttäuscht von dir!«
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