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Das erste Buch der Traeume

Das erste Buch der Traeume

Titel: Das erste Buch der Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Gier
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DIE GRÜNE TÜR IM TRAUM : ja
    DETAILLIERTE BESCHREIBUNG DES TRAUMS : Mein Kung-Fu-Lehrer Mr Wu und ich stehen mit vielen Touristen in der Luftseilbahn Adliswil, und Mr Wu will, dass ich ihm den Genickdrehhebel bei einer dicken amerikanischen Touristin im lila T-Shirt vorführe. Als ich ihn frage, ob er jetzt total spinnt, sagt er: Konfuzius sagt, der Weise vergisst die Beleidigungen wie ein Undankbarer die Wohltaten. Die grüne Tür gehört zur Seilbahn, hängt also mitten in der Luft. Ich gehe trotzdem hindurch und befinde mich im Korridor. Alles sieht ruhig und harmlos aus. Keine Spur von unheimlichen, scharrenden Wesen. Ich suche Graysons Tür und sage Freddys Namen dreimal rückwärts. Aber die Tür ist abgeschlossen. Ich rüttele heftig an der Tür. Der Fürchterliche Freddy sagt, ich hätte keine Manieren. Ich sage, der Weise vergisst die Beleidigungen wie ein Undankbarer die Wohltaten. Dann rüttele ich noch an zwei weiteren Türen, nur so zum Spaß. Alle abgeschlossen. Ein Wecker klingelt mörderisch laut. Mein Wecker. Ich verfluche ihn.
    Ich unterdrückte ein Stöhnen. Das las sich eindeutig mehr wie die Aufzeichnungen einer Verrückten als wie etwas, das man wissenschaftlich auswerten konnte.
    »Ich tippe auf Eisenmangel, aber vielleicht ist es auch etwas anderes.« Lottie hatte sich an Mum gewandt, die gerade halbnackt durch das Wohnzimmer lief. Für heute war Familienzusammenführung Nummer zwei geplant, diesmal ohne Wachteln, dafür mit Lottie, Butter, Umräumaktion und Auswahl der Wandfarben (und vermutlich weiteren Nervenzusammenbrüchen von Florence). Es war noch gut eine halbe Stunde Zeit, bis wir losmussten, aber Mum war jetzt schon schrecklich nervös. Buttercup trottete ihr hinterher, die Hundeleine im Maul.
    »Wir sollten für Liv einen Termin beim Arzt machen«, schlug Lottie vor.
    »Hm?« Mum hatte wie immer nur den letzten Satz mitgekriegt. Augenscheinlich suchte sie nach etwas. »Geht es dir nicht gut, Mäuschen? Ausgerechnet heute, wo du auf diese Party willst?«
    »Doch, alles bestens. Lottie macht sich nur Sorgen wegen der Augenringe.«
    »Ach, du bekommst meinen Concealer, dann sieht das keiner. Hat jemand die Hundeleine gesehen?«
    »Wuff«, machte Butter, aber Mum schenkte ihr keine Beachtung. Stattdessen wandte sie sich an Lottie. »Keine Sorge! In Livs Alter hatte ich viel schlimmere Ringe unter den Augen.«
    »Ja, weil du gekifft hast, Mum.«
    »Unsinn! Gekifft habe ich erst im College.« Mum drehte sich hektisch einmal um sich selbst. »Mia, leg das Ding beiseite und zieh dich endlich an! Ich will nicht, dass wir zu spät kommen, Ernests jüngster Bruder wird da sein und die Maler, und wo ist bloß die verdammte …«
    Lottie nahm Buttercup die Hundeleine aus dem Maul und reichte sie Mum.
    »Mit fünfzehn hatte ich jedenfalls aus anderen Gründen Ringe unter den Augen«, nahm Mum ihren Gedankenfaden auf und blickte die Hundeleine verdutzt an. »Nein, nicht was ihr wieder denkt. Ich habe nachts Gedichte geschrieben. Aus Liebeskummer.«
    »Du Arme. Wie hieß er denn?«, fragte Mia. Sie hockte im Nachthemd auf dem Sofa und starrte auf das Display von Lotties iPad.
    »Wer?«
    »Na, der Junge, dem du mit fünfzehn Liebeskummergedichte geschrieben hast.«
    »Ach, das waren so viele.« Mum machte eine wegwerfende Geste, und Butter nutzte die Gelegenheit und holte sich ihre Hundeleine zurück. »In dem Alter verliebt man sich doch alle drei Wochen in einen anderen.«
    »Na ja, du vielleicht«, sagte Mia. »Liv und ich sind da nicht so anfällig. Richtig, Livvy? Wir sind keine hormongesteuerten Dumpfbacken, deren Gehirn nur aus rosa Zuckerwatte besteht.«
    Ich war mir da nicht mehr so sicher. Leider dachte ich unverhältnismäßig oft an Henry und die Art, wie er guckte oder lächelte … Aber okay, ich war noch weit davon entfernt, eine hormongesteuerte Dumpfbacke mit einem Gehirn aus rosa Zuckerwatte zu sein. Es gab ja auch keinen Grund dazu. Als Henry gestern Morgen in der Schule an mir vorbeigelaufen war, hatte er lediglich freundlich »Hi, Käsemädchen« gesagt, und nichts, aber auch gar nichts in seiner Miene hatte darauf hingewiesen, dass wir im Traum Händchen gehalten hatten. Mein gesunder Menschenverstand sagte mir das Gleiche, aber da war dieses komische Gefühl in meinem Bauch, das ich einfach nicht ignorieren konnte. Auch deshalb hatte ich übrigens mit dieser nächtlichen Versuchsreihe begonnen: Diese Träume trieben mich so oder so in den Wahnsinn.
    UHRZEIT :  4

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