Das erste der sieben Siegel
Kang noch nicht mal in der Koreanischen Arbeiterpartei. Er war lediglich so etwas wie ein Krankenpfleger – und dazu noch irgendwo auf dem Lande.
Tasi-ko. Wo in aller Welt …?
Fitch schwenkte seinen Stuhl herum und sah auf die große Karte an der Wand hinter ihm. Es war eine Generalstabskarte von Nordkorea, die ganz unten eine alphabetische Liste der großen und kleineren Städte sowie der Dörfer hatte. Neben jedem Eintrag waren die Koordinaten mit den Längen- und Breitengraden, den Minuten und Sekunden angegeben.
Ausgangspunkt der Karte war die EMZ – eine dicke grüne Linie, die von Ost nach West am 38. Breitengrad entlang verlief. Nördlich der Linie markierten kleine rote Stecknadeln die Standorte der Infanterie- und Artillerieeinheiten der DVRK, während die Marinestützpunkte und Flugplätze mit blauen Reißzwecken gekennzeichnet waren.
Tasi-ko lag im Sektor K-7, also im II Corps, in den Ausläufern der Diamantberge, etwa hundertdreißig Kilometer nördlich der EMZ. Eine gottverlassene Gegend. Bloß …
Irgendetwas war dort geschehen. Vielleicht aber auch nicht. Die Quelle in Pjöngjang wusste von keinem ›Vorfall‹ und Fitch auch nicht. Aber das besagte nicht viel. Nordkorea war ein geheimnisvolles Land. Dort geschah vieles, worüber weder innerhalb noch außerhalb des Landes berichtet wurde. Das einzige, was sich wirklich zuverlässig sagen ließ, war, dass dieser Kang sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um überzulaufen. Und obgleich es durchaus möglich war, dass die Hungersnot ihn zu dem Schritt getrieben hatte, wieso sollte er deshalb lügen? Wieso sollte er sich irgendeinen ›Vorfall‹ aus den Fingern saugen, wo er doch einfach nur hätte sagen müssen: »Ich hatte Hunger«?
Also war vielleicht doch irgendwas geschehen. Aber was? Das Telegramm gab keinerlei Anhaltspunkte, und Fitch meinte den Grund zu kennen: Seoul hatte gar nicht erst gefragt – weil Seoul faul war.
Es war angeblich ein Eliteposten, aber die Wahrheit war, dass die Mitarbeiter dort die Hälfte der Zeit das entgegennahmen, was die Koreaner ihnen gaben, es abtippten und zurück nach Langley, Virginia, schickten. Sie bearbeiteten die Informationen nicht. Sie stellten sie nicht in Frage. Sie gaben sie einfach weiter und marschierten ins nächste Bordell.
Fitch brummte vor sich hm und wandte sich wieder seinem Schreibtisch zu. Er zog die Tastatur näher an sich heran und setzte ein Telegramm mit folgendem Wortlaut auf:
W AS FÜR EIN ›V ORFALL ‹?
Dann drückte er die Verschlüsselungstaste, druckte das Ergebnis aus und schickte es mit seinem großen, roten Faxtelefon nach Seoul.
Die entschlüsselte Antwort lag am Morgen auf seinem Schreibtisch. Laut MOTOWN (wie ›Seoul‹ sich gern selbst bezeichnete) behauptete Kang, dass Tasi-ko etwa zehn Tage zuvor vollständig zerstört worden war, und zwar angeblich durch eine Benzin-Luft-Bombe, die auf das Dorf abgeworfen worden war, nachdem Soldaten es einige Stunden zuvor abgeriegelt hatten. Kang war der einzige Überlebende, und das Dorf war von Bulldozern dem Erdboden gleichgemacht worden. Kein Stein war mehr auf dem anderen geblieben.
I NFORMANT BEHAUPTET T ASI - KO VON SEUCHE HEIMGESUCHT DIE ( UNBEKANNTE ) SPANISCHE F RAU EINGESCHLEPPT HATTE . B EHAUPTET DVRK.-A KTION ERFOLGTE NACH I NSPEKTION DURCH A RZT VON I NSTITUT FÜR I NFEKTIONSKRANKHEITEN IN P JÖNGJANG .
Was für eine spanische Frau? dachte Fitch. In Nordkorea gab es keine Spanierinnen. Und falls doch, dann höchstens so viele, wie es Banjos in Timo gab. Und überhaupt, woher wollten die wissen, wer die Seuche ausgelöst hatte?
Die Nachricht endete mit einem kurzen entlastenden Hinweis darauf, dass MOTOWN keine Möglichkeit habe, die Richtigkeit der Geschichte zu überprüfen – die schließlich von einer Quelle stammte, die in keiner Weise als zuverlässig betrachtet werden könne.
Sie hatten natürlich Recht, und Fitch musste zugeben, dass dieser Kang immer verrückter wirkte. Dennoch … es schadete nichts, ein paar Anrufe zu tätigen. Man konnte ja schließlich nie wissen.
Was er brauchte, waren Fotos, Fotos von Tasi-ko (oder von dem, was davon noch übrig war). Und er wusste auch, wo er vielleicht welche bekommen konnte.
Die erste Anlaufstelle war das National Reconnaissance Office (NRO), eine CIA-›Filiale‹, die ein Jahresbudget von sechs Milliarden Dollar hatte und von Spionagesatelliten aus Fotos mit hoher Auflösung machte. Leider verlangte das NRO, dass jeder Antrag auf Bildmaterial vom
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