Das erste der sieben Siegel
wir wissen«, sagte Annie.
»Nennen Sie ihn nicht ›Mr. Gleason‹.«
»Wie soll ich ihn denn nennen?«
Frank sah sie schräg an und schüttelte dann den Kopf. »Ich bin wahrscheinlich nicht gerade die beste Adresse für diese Frage.«
Annie lächelte. »Verstehe«, sagte sie.
24
Die Idee, mit Stern zu sprechen, kam von Annie.
Er war Doktorand an der theologischen Fakultät in Georgetown und schrieb an einer Dissertation über neue Religionen (oder so ähnlich). Sie waren ein paar Mal miteinander ausgegangen (»nur auf einen Kaffee oder ins Kino«, sagte Annie), hatten sich aber seit zwei Jahren aus den Augen verloren. Vor wenigen Wochen war sie ihm zufällig auf der Connecticut Avenue in der Schlange an der Theke eines Selbstbedienungscafés begegnet. Wie er erzählte, saß er noch immer an seiner Arbeit und gab einen ›mehr oder weniger vierteljährlichen‹ Rundbrief namens Armageddon Watch heraus. Er beschäftigte sich mit Sekten und neuen Religionen, mit Gehirnwäsche und dem Tausendjährigen Reich. Ich bin Experte für Bekloppte, scherzte er. Woraufhin sie irgendwas Witziges über ihr Spezialgebiet sagen wollte, nämlich ›Bazillen‹, aber dann war sie an der Reihe und musste sich entscheiden, ob sie nun Cappuccino oder Milchkaffee wollte, und –
Dann war er weg.
»Ich könnte mir denken, dass er einiges über den ›Tempel‹ weiß«, sagte Annie. »Das fällt doch in sein Ressort.«
Frank fand auch, dass sie mit ihm reden sollten.
Sie fanden Stern im Telefonbuch. Er wohnte außerhalb von Georgetown, an der Reservoir Road. Annie rief ihn an, und Stern lud sie zu sich ein.
»Stört es dich, wenn ich einen Bekannten mitbringe? Wir arbeiten gewissermaßen gemeinsam an einem Projekt.«
Nein, sagte er, es störe ihn nicht. Und tatsächlich erwies sich Stern als der vollendete Gastgeber. Nachdem er sie an der Haustür seines schäbigen Mietshauses begrüßt hatte, kochte er eine Kanne schwarzen Tee und bestärkte Frank in seiner Neugier hinsichtlich der vielen Bücher in der Wohnung. Sie lagen in Stapeln, große und kleine, auf jeder erdenklichen Fläche: auf dem Boden, den Tischen, den Fensterbrettern, den Heizkörpern – überall, nur nicht auf Bücherregalen (von denen es keine gab).
Er war älter, als Frank erwartet hatte – kein junger Bursche, sondern ein Mann Ende zwanzig. Er hatte wässrigblaue Augen, und sein Haar, das sich bereits lichtete, war entweder zu lang oder zu kurz, je nachdem was für eine Frisur beabsichtigt gewesen war. Er trug Stiefel und Jeans und ein weites Flanellhemd, und er lächelte viel.
Frank und Annie saßen auf der Kante einer abgewetzten Couch mit einem schönen grünen Bezug und schlürften ihren Tee.
»Ben ist genial«, sagte Annie, um ihn in Stimmung zu bringen. »Seine Dissertation ist fantastisch.«
Stern schmunzelte. »›Fantastisch‹ passt gut. Das Ding ist jetzt sechshundert Seiten lang, und ich bin dem Ende nicht näher als am ersten Tag vor drei Jahren.«
Frank verzog mitfühlend das Gesicht. »Das Problem kenne ich«, sagte er. »Ich arbeite seit vier Monaten an ein und derselben Story.«
»Das Blöde ist: Je mehr man weiß, desto komplizierter wird alles – also rückt das Ende in immer weitere Ferne. Wie bei den Zenonischen Paradoxien«, sagte Ben, »nur dass es nicht um Mathematik geht, sondern um Prosa.«
»Annie hat gesagt, sie schreiben über Sekten.«
Stern neigte sich nach rechts und links und rollte die Schultern, während er die Frage überdachte. »Ich denke, das kann man so sagen. Sekten, neue Religionen – wie man sie bezeichnet, hängt vom persönlichen Standpunkt ab.«
»Und wie lautet Ihre These?«
Stern zuckte die Achseln. »Je mehr sich alles ändert, desto mehr bleibt alles, wie es war.«
»Ach ja?«
Stern lächelte. »Es ist eine komparative Studie – die Taboriten und ›Mankind United‹.«
Frank schüttelte den Kopf. »Noch nie gehört.«
Stern rutschte verlegen in seinem Sessel hin und her, als wäre er dabei erwischt worden, wie er eine UFO-Zeitschrift las. »Das ist in etwa so, als wollte man Äpfel mit Birnen vergleichen«, sagte er. »Ich meine, sie sind sehr unterschiedlich, aber auch … aber auch sehr ähnlich. Die Taboriten waren im fünfzehnten Jahrhundert eine religiöse Splittergruppe in Böhmen. Sie erklärten dem Klerus den Krieg und predigten eine Art von proaktivem Glauben an das Tausendjährige Reich Christi.«
»Wie bitte?«, fragte Annie. »Was –«
»Sie fanden, es sei ihre
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