Das erste der sieben Siegel
zu versuchen.
Es war weit nach Mitternacht, fast eins, als das Telefon klingelte und ihn aus einem tiefen REM-Schlaf riss. »Wa …?«
»Frank? Ich bin’s, Annie.«
»Hallo«, nuschelte er und schaltete das Licht an.
»Aufwachen!«
»Ich bin wach«, sagte er und sah sich wild im Zimmer um. »Ich habe bloß … geschlafen. Jetzt bin ich wach.« Er stockte. »Wieso bin ich wach?«
»Sie müssen nach Hause kommen.«
»Tu ich. Werde ich. Morgen bin ich zurück. Ich meine, am Nachmittag. So gegen zwei.«
»Nein«, sagte sie. »Sie müssen jetzt gleich kommen. Sofort!«
Da war etwas in ihrer Stimme – Angst, Begeisterung, eine Mischung aus beidem. »Alles in Ordnung?«, fragte er, schlug die Decke zurück und schwang die Beine aus dem Bett.
»Ja«, sagte sie. »Mir geht’s gut. Aber ich habe mir die Website angesehen –«
»Welche?«
»Die vom ›Tempel‹.«
»Ach so.«
»Und sie sind es!«, sagte sie. »Es ist der ›Tempel‹.«
»Natürlich ist es der ›Tempel.‹ Ist schließlich ihre Website. Wovon reden sie eigentlich?«
»Sie sind ein Genie«, erklärte Annie. »Sie hatten Recht. Die vom ›Tempel‹ haben die Leichen mitgenommen!«
»Und das steht in der Website?«
»Nein! Ich meine, ja, in gewisser Weise. Das Pferd ist auf der Website!«, sagte Annie.
»Welches Pferd?«
»Das weiße Pferd – mit dem irren Blick. Es gehört zu ihrem Logo.«
»Sie meinen … das vor der Erde?«, fragte Frank. »Mit den Wolken und so?«
»Jawohl!«
Er überlegte. »Na und?«, sagte er schließlich. »Es ist bloß ein Pferd.«
»Es ist das gleiche Pferd«, klärte Annie ihn auf.
»Das gleiche wie was?«
»Das Pferd in Kopervik. Da war ein Pferd auf die Kirche gemalt – ein großes Pferd –, aber es war ein Graffiti. Und es hat uns irgendwie Angst gemacht. Und als ich jetzt das Pferd auf der Website gesehen hab – das ist wie ihre Unterschrift. Sie haben die Leichen gestohlen und ihr Zeichen auf der Kirche hinterlassen!« Sie verstummte einen Moment, dann: »Frank!«
»Was?«
»Warum sollte eine … religiöse Gruppe … so etwas machen? Ein Virus. Ich meine –«
»Ich weiß nicht«, sagte er.
»Aber wir müssen das jemandem sagen, stimmt’s?«
»Ja. Sicher.«
»Aber … wem?«
Er dachte nach, aber es gab keine andere Wahl. »Gleason«, sagte er. »Wir müssen es diesem verdammten Gleason sagen.«
23
Er packte seine Sachen zusammen und fuhr durch die Nacht Richtung Washington, wo er kurz nach vier Uhr am Morgen ankam. Wundersamerweise fand er ganz in der Nähe seiner Wohnung einen Parkplatz.
Zu Hause angekommen, wusste er nicht recht, wie er die Zeit totschlagen sollte. Er hatte versprochen, Annie ganz früh abzuholen – um sieben – und mit ihr zum FBI zu fahren. Was bedeutete, dass er sich noch für zwei Stündchen aufs Ohr legen könnte.
In der Gasse hinter seinem Wohnhaus hörte er die Müllmänner mit den Tonnen herumpoltern. Ich sollte lieber duschen, dachte er. Ein paar Notizen machen, die Satellitenfotos zusammensuchen. Kaffee kochen.
Fünf Minuten später stand er unter der Dusche und ließ sich das heiße Wasser auf den Nacken prasseln. Und dann fiel es ihm ein.
Heute kommt die Müllabfuhr gar nicht. Die kommt donnerstags. Wir haben Dienstag. Und außerdem, die Müllmänner kamen zwar früh, aber doch nicht so früh. Er sah auf die Uhr. Halb fünf.
Er stand einen Moment wie erstarrt und dachte nach, dann stellte er die Dusche ab. Er stieg aus der Kabine, wickelte sich ein Handtuch um die Hüfte und ging zum Küchenfenster, das auf die rückwärtige Gasse ging.
Zwei Männer warfen Müllbeutel hinten in einen Transporter von der Mietwagenfirma U-Haul. Was die städtische Müllabfuhr bestimmt nicht getan hätte. Die Missstände in der Verwaltung waren zwar bekannt, aber Frank war sicher, dass es so weit denn doch noch nicht gekommen war. Noch nicht, jedenfalls.
Sie zerrten die Müllbeutel aus dem Container, der zu seinem Apartmenthaus gehörte, und schleuderten sie in den Transporter. Der Container gegenüber blieb voll, ebenso die anderen weiter oben. Worauf haben die es wohl abgesehen, dachte er, und dann sah er plötzlich wieder Kramer vor sich, wie er neben dem Schnellimbiss stand und hektisch telefonierte.
Die klauen meinen Müll, dachte er. Nein. Das kann nicht sein. Trotzdem … ansonsten wohnten bei ihm im Haus nur noch die Lehrerin Charlotte Seltzer und Carlos Rubini, der im Wohnungsamt arbeitete. Warum sollte sich jemand für deren Müll
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