Das erste der sieben Siegel
Annie nahm ihre Dienste gern in Anspruch, weil sie nur äußerst ungern selbst die Suche nach Virenfährten unter dem Mikroskop durchführte. Das Mikroskop war nämlich ein recht klapprig wirkendes Ding etwa von der Größe einer altertümlichen Telefonzelle und jeweils in einem eigenen Raum untergebracht – normalerweise im Kellergeschoss. Da absolut stabile Bedingungen erforderlich waren, hatte man den Raum dick isoliert und auf Streben ausbalanciert. Und genau damit hatte Annie ihre Schwierigkeiten. Es war ein toter Raum mit der Atmosphäre wie unter einer Glasglocke. Sich darin aufzuhalten war, wie lebendig begraben zu sein.
Sie legte ihre Sachen in ihrem Büro ab und brachte die umständliche Prozedur hinter sich, die entsprechende Schutzkleidung für den Umgang mit infektiösen Stoffen anzulegen. Nachdem das erledigt war, legte sie eines der virösen Kügelchen zurecht und schabte mit einer speziellen Schneideapparatur, die mit einer Diamantklinge ausgestattet war, eine Reihe von winzigen, Ängströmdicken Scheibchen davon ab, die dann automatisch in eine Flüssigkeit fielen. Jetzt kam der kniffligste Teil – nämlich das winzige runde Plättchen aufzuheben, das unters Mikroskop gelegt werden sollte, und das viröse Muster darauf zu bekommen. Dieses Plättchen war eine winzige Scheibe, zwei Millimeter im Durchmesser, ungefähr so groß wie ein Stecknadelkopf. Es kam darauf an, den leicht erhabenen Rand dieses Plättchens mit einer Präparierpinzette zu packen und eines der in der Flüssigkeit treibenden Scheibchen virösen Materials damit so zu ›erwischen‹ oder ›rauszulöffeln‹, dass das Scheibchen gut an der Oberfläche mit dem Sichtraster haftete. Sie starrte auf die Virusproben, die in der Flüssigkeit dahin trieben, und suchte nach einer, die golden schimmerte. Die goldenen waren nämlich immer die dünnsten und somit besten Scheibchen. Je dünner, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass es gelang, ein erkennbares viröses Muster aus dem ansonsten verwirrenden Haufen sichtbaren Materials zu isolieren.
Zwei Proben hingen über den Plättchenrand und mussten entsorgt werden. Eine dritte riss ein, als Annie versuchte, sie noch in der Flüssigkeit auf das Raster zu manövrieren. Und dann musste sie ausgerechnet in dem Augenblick husten, als es ihr gerade gelingen wollte, ein wunderbar goldenes Scheibchen auf das Raster zu befördern. Natürlich rutschte es weg, und sie brauchte drei weitere Versuche, bis sie eines erwischte. Meine Güte, sie hatte diese Grippe wirklich satt!
Und nun würde sie sehen, wie diese Grippe wirklich aussah. Sie fixierte das Raster in der ›Schachtel‹, schob diese ins Mikroskop und schaltete es ein. Sie brauchte fast eine Stunde, bis sie gefunden hatte, was sie suchte, und als sie die Vergrößerung noch besser einstellen wollte, konnte sie es wieder eine ganze Weile nicht finden. Als sie es endlich wieder lokalisiert hatte, runzelte sie die Stirn.
Das Influenzavirus ähnelt einem runden Ball mit einer Vielzahl von Stacheln und Noten auf seiner Oberfläche. Die Stacheln sind die Antigene, Hämaglutinin und Neuraminidase, die sich an die Schleimhaut der Atemwege heften. Bei jeder Virusvariante sehen diese Stacheln anders aus. Wenn das Immunsystem durch frühere Infektionen oder Impfung für eine besondere Variante sensibilisiert ist, erkennt das Immunglobulin des Körpers die Stacheln und reagiert, indem es sich an sie bindet und so neutralisiert. Doch bei diesem Virus, das sie da vor sich hatte, sahen die Stacheln irgendwie … seltsam aus. Sie waren anders als bei allen Grippeviren, die sie bisher gesehen hatte. Sie wirkten fast schleimig – irgendwie klebrig und undeutlich, als wären die Oberflächenproteine mit einem zähen Gel überzogen.
Sie runzelte die Stirn. Häufig konnte man, solange man am Mikroskop saß, nicht genau erkennen, was man da eigentlich sah. Ein Ausdruck war oft hilfreich, um ein deutlicheres Bild zu bekommen. Neuere Apparate waren an Computer angeschlossen, die es erlaubten, ganze Bilderserien zu speichern, die dann koloriert und verschiedenen optischen Manipulationen unterworfen werden konnten, sodass die einzelnen Bilder deutlicher wurden. Die Benutzerzeit an solchen Geräten war strikt rationiert, wie die Benutzerzeiten für Hochleistungsteleskope. Annie arbeitete jedoch mit einem älteren Gerät, das lediglich Glasplattennegative erstellte, die dann, wie jedes herkömmliche Negativ, mit Hilfe eines Vergrößerungsgerätes belichtet
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