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Das erste der sieben Siegel

Titel: Das erste der sieben Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Case John F.
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man von Eis umgeben ist und die Bedingungen richtig sind, sieht man in der Ferne das Wasser, direkt hinter dem Horizont, wie es vom Himmel reflektiert wird. Wenn man im Wasser ist, kann man Eis sehen – was einmal die wichtigere Verwendung des Phänomens war. Früher wurde auf den Schiffen jemand am Bug postiert, der den Himmel beobachtete, um nach Eisbergen Ausschau zu halten.« Er deutete nach vorn. »Das nennt man ›Blink‹. Wasserblink. Eisblink. Schneeblink. Das dahinten – das ist ein Wasserblink. In einer Stunde sind wir auf dem offenen Meer. Sie werden schon sehen.«
    Sie glaubte es eigentlich erst, als es geschah. Sie war in ihrer Kajüte und zog sich trockene Sachen an, als eine jähe Stille ihr fast das Herz stocken ließ. Unvermittelt hatte das Eis einen Weg freigegeben, das Knirschen der Eisblöcke hörte auf, und die Welt – die ganze Welt – glitt sanft dahin, als hätte ein Bohrer ein dickes Brett durchstoßen.
    Lächelnd ließ sie sich rückwärts auf ihre Koje fallen und schloss die Augen. Es war fast so, als könnte sie es sehen: die reine, scharfe Kontur des schrägen Bugs, der durch das offene Wasser schnitt, das dunkle Meer, auf dem sich die wogende, phosphoreszierende Gischt teilte.
    Und kurz davor, fast zum Greifen nahe: Kopervik. Das Virus. Und ihre Zukunft.

7
    Archangelsk
    24. März 1998
    »Ist weg.«
    »Nein«, sagte Daly, »das muss ein Irrtum sein.« Der Schneesturm hatte sich noch nicht gelegt, also musste der Mitarbeiter der Reederei Polarsk sich irren. »Sie sollte zwar gestern auslaufen, aber, verstehen sie – ich hatte keine Möglichkeit, nach Murmansk zu kommen.«
    Der junge Mann hörte geduldig zu, wickelte sich eine lange fettige Haarsträhne um den Zeigefinger. Dann wiederholte er, was er gesagt hatte: »Ist weg.«
    »Aber – es ist Sturm. Da tobt ein Hurrikan, verdammt noch mal! Bei dem Wetter läuft doch kein Schiff aus!«
    Der junge Mann seufzte, strich ein zusammengerolltes Faxblatt auf dem Schreibtisch vor sich glatt und legte den Finger neben eine Zeile mitten auf der Seite. »Ich verstehe Sie ja, Mann, aber dieses Schiff ist ein Eisbrecher – es fährt vor dern Sturm ab.«
    »Was?« Daly war ebenso verdutzt über die lässige Sprache des Angestellten wie über das, was er gesagt hatte. Zum ersten Mal fiel ihm auf, dass der junge Mann einen Ohrring trug.
    »Ja«, sagte er. »Sie legte um elf Uhr ab – gestern.«
    Daly fuhr sich mit der Hand durchs Haar und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Er hatte das Gefühl, dass der junge Mann seiner Sache sicher war. Und dann begriff er: Er hatte das Schiff nicht nur verpasst, sondern es war bereits ausgelaufen, noch bevor er eigentlich hätte ankommen sollen.
    Was ihn stinksauer machte. Er hatte die ganze Zeit ein schlechtes Gewissen gehabt, weil Kicklighter und Adair seinetwegen warten mussten – dass sie sich fragen würden, wo er blieb und so weiter –, und musste jetzt erfahren, dass sie ihn abgeschrieben hatten, einfach so. Als hätte er vor einem Kino in Washington gestanden und nicht im ›Tschernomorskaja‹ gehockt – in diesem verdammten ›Tschernomorskaja‹ – in Archangelsk!
    »Kann ich hier irgendwo ein Fax abschicken?«
    »Nicht auf die Rex Mundi.« Der junge Mann schüttelte den Kopf. »Ist nicht möglich.«
    »Wieso nicht?«
    »Weil … es ein Schiff ist.« Er zuckte die Achseln. »Sie müssen Telex schicken.«
    »Telex?« Daly wusste nicht mal genau, was ein Telex war. Irgend so was wie ein Telegramm oder so. Aber er sagte: »Okay, ich schicke ein Telex. Wo kann ich das machen?«
    Das Hauptpostamt sei direkt um die Ecke auf der ulitsa Woskresima. Und es sei noch dazu ein gutes. Als Daly das Büro der Reederei verließ, sprang ihn die Kälte an wie ein Kettenhund. Einen Augenblick lang war ihm, als würde er auf der Stelle zu Eis erstarren. Das war nicht so eine Kälte, wie es sie in den Staaten gab, dachte er. Es war eine Kälte, die es nirgendwo gab. Sie kam direkt aus der Hölle, und noch während er dastand, wie gelähmt, saugte sie ihm die Seele aus.
    Ein steifer Wind blies von Norden her, direkt aus Murmansk, fegte ihm körnigen Schnee ins Gesicht, der sich anfühlte wie eine Mischung aus Eis und Sand. Schaudernd zog er die Schultern hoch, drückte den Kragen seines Parkas enger an den Hals und stolperte vorwärts. Einen Fuß vorsichtig vor den anderen setzend, bewegte er sich über die Eisscholle, die wohl der Bürgersteig sein sollte, und ging den Hügel hinab in Richtung auf den

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