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Das erste der sieben Siegel

Titel: Das erste der sieben Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Case John F.
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rechnete sich aus, dass ihm noch zehn Minuten blieben, bis der Laptop keine Energie mehr hatte.
    Gegenstand der Untersuchung von Dr. Benton Kicklighter ist die Erforschung der Gründe, warum die Spanische Grippe die tödlichste Influenzaart überhaupt ist.
    Das Akkulämpchen flackerte, der Computer gab einen Piepton von sich, und Daly fuhr zusammen. Er hatte noch etwa eine Minute, bevor der Laptop abstürzte, aber er wollte nicht aufhören. Jetzt kam er nämlich zu dem Teil der Geschichte, der ihm Kopfzerbrechen bereitete, der für ihn keinen Sinn ergab. Es ging um die Expedition und den Grund, warum sie durchgeführt wurde. Wenn er am Computer blieb und darüber schrieb oder es wenigstens versuchte, wäre er vielleicht in der Lage, sich einen Reim darauf zu machen. Zumindest müsste er seine Verwirrung artikulieren können – was der erste Schritt wäre, die Story hinzukriegen.
    Aber nicht jetzt. Wieder ertönte ein Piepen, und mit einem Seufzer speicherte Daly die Datei ab und schaltete den Computer aus. Dann steckte er ihn in seinen Matchbeutel, den er unter das Bett schob. Seine Finger waren steif, und ihm knurrte der Magen, obwohl ihm, als er den Schnee sah, der sich vor seinem Fenster türmte, und das Heulen des Sturms im Luftschacht hörte, der Appetit verging. Wie es aussah, würde er im Keller des ›Tschernomorskaja‹ essen müssen.
    Wieso lief ihm bei diesem Gedanken nicht das Herz vor Freude über?

8
    78° 20’ N, 22° 14’ O
    Annie wachte abrupt auf, wurde aus einem so tiefen Schlaf ins Bewusstsein gerissen, dass sie förmlich nach Luft schnappen musste, als sie die Augen aufschlug und feststellte, auf der Welt zu sein. Sie sprang auf, lief über den Korridor zum Hauptdeck, die Schneebrille in der Hand. Gespannt darauf, wo sie gerade waren, lehnte sie sich gegen die Metalltür, die auf das Deck führte, stieß sie auf und trat hinaus – wo die kalte Luft ihr ins Gesicht fuhr wie das Blitzlicht eines Paparazzo. Mit einem Mal war sie wacher als je zuvor in ihrem Leben und wie erstarrt – ihre Gedanken zerstoben explosionsartig in alle Richtungen, wie eine Pusteblume im Wind.
    Eisberge! Aber was für ein fades Wort für das, was sich ausnahm wie schwimmende Eispaläste. Die Rex segelte durch eine Flotille treibender blauer Berge. Und sie waren ganz anders, als sie erwartet hatte, keine großen Eiswürfel, die auf dem dunklen Wasser tanzten, sondern architektonische Wunder, von Wind und Wasser zu komplexen und verschlungenen Formen gemeißelt. Da waren parabolische Kurven, gotische Türme, gedrechselte Säulen, glänzende Bergkämme und wellige Hänge, hochragende Berge aus Eis. Und alle waren sie aus einem durchscheinenden Material, das mit dem Eis, das sie kannte, nichts gemein hatte, sondern in einem reinen Blau, einem himmlischen Licht erstrahlte, wie von innen beleuchtet.
    Es war das Blau von Montego Bay und das Blau, das auf die Statuen in den kleinen Gärten der Bostoner Vorstädte gemalt wurde, um die Gewänder der Jungfrau Maria darzustellen. Es war das reinste Blaugrün, in dem man die Wände von Swimmingpools strich. Und es war das strahlende, unnatürliche Blau, das, sich auf den Dächern von Polizeifahrzeugen drehend, einen Tatort gespenstisch erhellte.
    Kurz vor Sonnenuntergang erreichten sie ihren Ankerplatz, und Annie konnte die Küste von Edgeøya sehen – eine zerfurchte, ins Meer geduckte Insel, deren trostlose Küste von einer gezackten Linie schwarzer Felsen markiert war. Eine Stunde nachdem der Anker gesetzt worden war, aßen sie und Doctor K, die Schneemänner und der Kapitän zusammen in der Kapitänsmesse zu Abend.
    Der Kapitän war ein großer Lette mit frischem Gesicht und schütterem Haar, das er sich in Strähnen quer über den Kopf kämmte. Annie mochte ihn, aber jetzt am Tisch war sie gedämpfter Stimmung. Ihre Begeisterung und ihr Erstaunen über die Arktis waren dem Gefühl gewichen, dass sie alle einfach nicht dort sein sollten, nicht dorthin gehörten, dass es viel zu schön war. Die leere, vollkommene Landschaft mit ihrer kargen Farbpalette, die klare Luft, die durchdringende Stille – all das wurde durch die Primärfarben ihrer Parkas, die Wolke Dieselabgase, die über dem Schiff hing, den banalen Lärm, den ihre Anwesenheit erzeugte, zerstört.
    »Was ist los?«, fragte der Kapitän, das fleischige Gesicht vom Wein gerötet.
    Annie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Nichts. Es ist bloß – ich habe das Gefühl, dass wir Eindringlinge sind.«
    Doctor

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