Das erste der sieben Siegel
zurück. »Ooooh«, sagte er. »Löwen und Tiger und Bären – du meine Güte!«
Mark lachte, und Annie wurde rot. Der Professor blinzelte mehrmals rasch, als hätte er den Faden verloren. Schließlich rang er sich ein schwaches Lächeln ab. »Allerdings«, sagte er.
Sie machen sich über ihn lustig, dachte Annie, und damit im Grunde auch über sie. Nicht, dass Doctor K sich dadurch beirren ließ. Der Professor war gegen Spott immun, war sich seiner selbst so sicher, dass es ihm eigentlich egal war, was andere dachten. Und nun, da er mit dem Essen fertig war, faltete er seine Serviette zusammen, schob seinen Stuhl zurück und stand auf. Er nickte dem Kapitän zu und sagte: »So … morgen ist ein großer Tag.«
Er war schon halb zur Tür hinaus, als er stehenblieb, sich umdrehte und in seine Jacketttasche griff. »Bevor ich’s vergesse«, sagte er. »Das hier ist gestern gekommen.« Er nahm einen Zettel aus seiner Tasche und reichte ihn Annie. »Es war wohl der Schneesturm«, fügte er hinzu. Dann winkte er kurz und war verschwunden.
Annie entfaltete den Zettel und blickte auf die Nachricht:
S ITZE FEST A RCHANGELSK . <BR/>T REFFPUNKT H AMMERFEST . D ALY
»Schätze, der Löwenbändiger braucht seinen Schlaf«, sagte Brian.
Annies Gesicht wurde plötzlich warm. »Lachen sie ruhig«, sagte sie, »aber er ist in seinem Job der Beste auf der Welt. Und wenn Sie glauben, dafür braucht man keinen Mut, dann haben sie keine Ahnung von den Krankheitserregern, mit denen er zu tun hat.« Sie steckte das Telex in ihre Tasche.
»Ach ja?«
Ihr Gesicht glühte jetzt, und sie wusste, dass ihr der Wein in den Kopf gestiegen war. »Ich wäre an ihrer Stelle nicht so blasiert«, sagte sie, »erst recht, wenn Sie nicht wissen, worauf Sie sich hier einlassen.«
»Einlassen?« Brian runzelte die Stirn, und Mark blickte sie fragend an.
Annie spielte mit ihrer Serviette. »So habe ich das nicht gemeint«, sagte sie. »Ich meinte, wenn Sie nicht wissen, wovon Sie reden.« Gott, das hörte sich noch schlimmer an. Verwirrt drehte sie sich der Bedienung zu, die mit einer Kanne Kaffee neben ihr stand. »Bitte«, sagte sie mit einer Stimme, die viel zu laut und fröhlich klang.
Brian fixierte sie weiter. »Ich wusste nicht, dass wir uns auf irgendwas einlassen«, sagte er.
»Das tun wir auch nicht.«
»Ich meine, ich habe gedacht, wir würden bloß ein paar Leichensäcke ausbuddeln.«
»Stimmt«, erwiderte Annie viel zu schnell. Sie nippte zweimal an ihrem Kaffee und merkte, dass Mark und Brian Blicke austauschten. Dann faltete sie ihre Serviette zusammen und schob ihren Stuhl zurück. »Ich denke, ich schau mir mal das Nordlicht an«, sagte sie, während sie ihren Parka nahm.
»Gute Idee«, bemerkte der Kapitän, stand mit einer kleinen Verbeugung auf, öffnete die Tür und hielt sie für Annie auf.
Annies Herz schlug wie eine Trommel, als sie über den Korridor nach draußen ging. Das Lügen fiel ihr nicht leicht. Sie konnte eigentlich so gut wie gar nicht lügen. Und wenn sie einmal lügen musste, machte sie sich schleunigst davon, so wie jetzt.
Die Wahrheit war, dass die Expedition nicht ganz ungefährlich war. Obwohl sie alle denkbaren Vorsichtsmaßnahmen getroffen hatten, bestand immer die – wenn auch geringe – Möglichkeit, dass das Virus noch aktiv war und dass es irgendwie freigesetzt wurde. Und wenn das passierte, dann wären alle an Bord des Schiffes in Gefahr. In diesem Sinne ließen sie sich tatsächlich auf etwas ein, obgleich es unwahrscheinlich war, dass der Extremfall wirklich eintrat.
Annie stand an der Reling, die Augen auf das Nordlicht gerichtet, das hinter dem Horizont flimmerte, ein wogender grüner Vorhang, der zu den Sternen aufstieg.
Sie war sich ihrer Sache plötzlich nicht mehr sicher. Zwar hatte Doctor K das Forschungsprojekt beantragt, aber die Expedition war ihre Idee gewesen. Zugegeben, ohne Doctor Ks Unterstützung wäre das Ganze nie zustande gekommen, aber ohne sie, Annie, wäre die Expedition erst gar nicht denkbar gewesen.
Wenn also irgendetwas schief ging und die Hälfte der Menschheit starb … dann wäre sie dafür verantwortlich.
Annie stieß einen verzweifelten Laut aus. Es war ausgeschlossen, dass das Virus freigesetzt wurde. Selbst wenn die Rex einen totalen Stromausfall hatte und die Generatoren im Kühlraum versagten, die Leichentransportkisten waren hermetisch verschlossen, und die Leichen selbst sollten in formalingetränkte Laken
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