Das erste der sieben Siegel
Seite an Seite die Stufen hinauf. Oben angekommen, wandten sie sich um und genossen, um Atem ringend, den Blick auf die Aussicht, durch die sie eben noch gejoggt waren.
»Das sieht aus wie von Seurat«, sagte Annie.
»Der mit den vielen Punkten.«
»Nachmittag –«
»… auf der Insel La Grande Jatte.«
Überall waren Menschen; in Autos, auf Fahrrädern und Inline-Skates. Sie joggten und machten Picknick. Sie schlenderten am Potomac entlang. Flugzeuge dröhnten über sie hinweg zum National Airport. Motorboote durchpflügten den breiten Fluss. Und überall waren Monumente: Washington, Lincoln, Jefferson und Einstein. Das Vietnam Veterans Memorial. Das lang gezogene Wasserbecken der Mall und dahinter: das Kapitol.
Auf dem Rückweg kamen sie auf halber Strecke an einem improvisierten Spielfeld vorbei, wo zwei Mannschaften mit leidenschaftlichem Einsatz Football spielten. Als sie gerade daran vorbeiliefen, flog der Ball nach einem Fehlpass über die Außenlinie, prallte einige Male vom Boden ab und kullerte dann Richtung Straße.
»Holt ihr mal den Ball?«, rief jemand.
Instinktiv hob Frank den Ball auf und warf ihn dem Quarterback zu. Es war ein perfekter Pass, und der Ball flog wie an der Schnur gezogen vierzig Meter weit ins Feld.
»Wow!«, rief der Mann, als das Footballei ihm gegen die Brust prallte. »Willst du mitspielen?« Frank schüttelte den Kopf, winkte leicht und trabte weiter.
»Wir könnten spielen«, sagte Annie. »Wenn Sie wollen.«
»Nee … Ich spiel nicht gern Football.«
»Hätte ich nicht gedacht. Das war ja fast wie bei einem Profi.«
Er zuckte die Achseln. »Ich hab früher mal gespielt«, sagte er.
»Sie können aber richtig gut werfen.«
Er zog das Tempo ein wenig an, sodass sie gezwungen war aufzuholen. Sie wollte ja nur nett sein, aber … er wollte nicht darüber reden. Beim Football musste er immer an seinen Vater denken, und … Ob er überhaupt noch am Leben ist? Die Frage war schon beinahe müßig.
Eine Weile liefen sie schweigend weiter, und Annie wunderte sich über seine Verstimmung. Schließlich wechselte sie das Thema, was auch immer das unausgesprochene Thema zuvor gewesen war. »Und?«, setzte sie an. »Ist es vorbei?«
»Was?«
»Die Kopervik-Geschichte. Sie sind in einer Sackgasse gelandet, stimmt’s?«
»Nein!«, entgegnete er gekränkt. »Ich stecke nicht in einer Sackgasse.«
»Ja, aber was können Sie denn noch machen?«
»Vieles.«
»Zum Beispiel?«
»Den Anhaltspunkten weiter nachgehen.«
»Welchen Anhaltspunkten?«, fragte sie.
Er schielte zu ihr hinüber. Gute Frage. »Ich weiß nicht. Da sind so einige.«
Annie lachte. Dann wich sie einem Teenager auf einem Fahrrad aus, holte Frank ein und wiederholte die Frage: »Welche Anhaltspunkte?«, wollte sie wissen und sah ihn dabei an.
»Machen Sie einen auf Torquemada?«, fragte Frank zurück.
»Ich bin bloß neugierig«, sagte sie.
»Okay … die Flagge!«, schlug Frank vor. »Die Flagge ist ein Anhaltspunkt.«
»Die auf dem Hubschrauber?«
»Genau.«
Sie überlegte beim Laufen und sagte dann: »Wie wollen Sie denn damit weiterkommen?«
Frank verdrehte die Augen, im Laufen eine ausgesprochen uneffektive Geste. »Es ist eine amerikanische Flagge«, sagte er. »Also handelt es sich vermutlich um ein amerikanisches Schiff. Und deshalb könnten die Leichen in einem amerikanischen Hafen angekommen sein.«
»Jaaaa?«
»Wenn ja, müsste es jedenfalls Unterlagen dazu geben«, sagte Frank.
»Es sei denn, sie haben sie eingeschmuggelt.«
»Vielleicht war es aber gar nicht so einfach, sie ins Land zu schmuggeln. Jedenfalls nicht, wenn sie gekühlt werden mussten.«
»Und das mussten sie!«, rief Annie so laut und deutlich, dass ein entgegenkommendes Paar sie anstarrte. Sie wurde rot und senkte die Stimme. »Ich meine, sie mussten gekühlt werden, wenn das Virus erhalten bleiben sollte.«
»Und nachdem sie sie in den Staaten hatten …«
»… brauchten sie ein Labor, um mit dem Virus zu arbeiten.«
»Was für eine Art von Labor?«, fragte Frank.
Er bekam nicht sofort eine Antwort. Sie überlegte, und beim Überlegen wurde sie langsamer. Frank passte sein Tempo entsprechend an.
»Nehmen wir an, sie hatten einen Kühlraum, wie eine riesige Tiefkühltruhe.« Sie ging jetzt und er auch. »Sie könnten Proben aus den Leichnamen entnehmen – zuerst aus den Lungen – und jeweils nur mit kleinen Gewebeproben arbeiten. Auf diese Weise würden sie keine Schutzanzüge brauchen. Sie könnten
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